Grün ist der Polizeistaat

Der Atomkonsens wird von der Bevölkerung nicht akzeptiert. Das beweisen die Castor-Proteste im Wendland und jetzt wieder in Philippsburg. Die Grünen verlieren ihre Wähler

Fast alle deutschen Grünen versichern, sie hätten nicht vor, den Atomkonsens neu zu verhandeln

Wenn die Grünen tatsächlich vorhaben, den Castor-Protest auszusitzen, könnte das ihr Untergang werden. Denn die unüberhörbare Botschaft aus Gorleben lautet: Ein Atomkonsens ohne Bevölkerung ist keiner. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Oswald Metzger brachte dieses Dilemma auf den Punkt. Er kommentierte die Entscheidung von Claudia Roth und Fritz Kuhn, nicht zu den Castor-BlockiererInnen im Wendland zu fahren: „Mit diesen Leuten können Sie als Regierungspartei, die einen Atomkonsens auf eine längere Frist von nahezu 20 Jahren beschlossen hat, nicht mehr diskutieren.“

Danke, Herr Metzger, das war’s. Lauter und hässlicher kann man das Tischtuch nicht zerreißen oder vielmehr den letzten Fetzen, der Regierungsgrüne und AtomgegnerInnen noch verband. Der kleine dumme Umstand für die Grünen in Amt und Anzug ist nur, dass der Konflikt in Gorleben nicht irgendeiner ist. Es geht nicht um Schnürsenkel. Oder um biogasbetriebene Wischwaschanlagen. Es geht immerhin um Atomenergie und die von ihr in Gang gesetzte gesellschaftliche Kettenreaktion.

Dabei hat die verzweifelte Opposition gegen eine Energiewirtschaft, die die Zukunft für die Gegenwart verheizt, Gründung und Aufstieg der grünen Partei überhaupt erst möglich gemacht. Ausgerechnet in Niedersachsen stand die Wiege der Grünen: Dort wurde die erste grüne Wahlvereinigung gegründet, 1979 begrüßten dort 100.000 AtomgegnerInnen den Treck der wendländischen Bauern in Hannover. Jahre und Jahrzehnte lang hat dieser antinukleare Kampf den Kern der grünen Identität ausgemacht. Die Grünen wurden gewählt, weil sie in den Augen ihrer AnhängerInnen „unsere Leute“ waren – die Bindung zwischen WählerInnen und Gewählten war viel stärker als bei allen anderen Parteien.

Damit ist es nicht nur im Wendland aus und vorbei. Es ist uninteressant, ob man, wie Warnfried Dettling neulich an dieser Stelle, „Verrat“ in der Politik für eine untaugliche Kategorie hält: Wenn es die Menschen so empfinden, dann wird diese Kategorie zur emotionalen Wirklichkeit. Lediglich ein Wall von Mikrofonen und Kameras schützte die Greengirls Kerstin Müller und Claudia Roth vor den aufgebrachten LandwirtInnen kurz vor der Ankunft der Castoren. AtomgegnerInnen machten sich einen Spaß daraus, mit Trittin- und Fischer-Masken vermummt auf den Gleisen herumzuturnen. Im gesamten Landkreis gibt es kaum mehr grüne Parteimitglieder, selbst Gründungsmitglieder wie die frühere BI-Vorsitzende Marianne Fritzen sind längst ausgetreten. Die Einzige, die noch Ansehen genießt, ist die Fraktionschefin der niedersächsischen Grünen, die tapfere Rebecca Harms, die sich von Parteioberen nie den Mund hat verbieten lassen.

Mit jedem weiteren durchgeprügelten Castor werden die Grünen im Wendland und in ganz Deutschland weitere Wählerstimmen verlieren und keinen einzigen neuen Wähler hinzugewinnen. Und da behauptet Matthias Urbach kürzlich auf dieser Seite, dass in Gorleben „so etwas wie ein grüner Stammtisch“ versammelt sei, der von den Grünen nur „gepflegt“ werden müsse, wie das die CSU mit ihrer Klientel auch täte. Dieser Vorschlag hat es faustdick grün hinter den Ohren.

Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass das Wendland zu befrieden wäre. Beim letzten Mal hielt die Straßenblockade gegen die Castoren sieben Stunden, dieses Mal zwang Robin Wood mit dem großartigsten aller Coups den Castor-Zug zur Umkehr, nächstes Mal und übernächstes Mal und überübernächstes Mal wird es unter Garantie wieder eine Überraschung geben. Die Zahl der beteiligten DemonstrantInnen mag schwanken, das hat sie immer getan, aber 24 Jahre antiatomarer Kampf voller Kreavität und Fantasie haben den Widerstand ins Wendland fest einbetoniert. Eine gemeinsame Presseerklärung von BUND, Robin Wood, Greenpeace und X-tausendmal quer brachte die Sache auf den Punkt: Der so genannte Atomkonsens „ist kein Konsens mit der Bevölkerung“. Was auch die derzeitigen Proteste gegen den am Dienstag beginnenden Transport von Atommüll aus deutschen Kraftwerken ins französische La Hague wieder einmal beweisen.

Solche Bilder werden uns leider noch einige Jahre begleiten: Denn nach den im Juni 2000 zwischen rot-grüner Bundesregierung und Energiewirtschaft getroffenen Vereinbarungen dürfen die Atommeiler 32 Jahre weiterlaufen. Zudem ist die Wiederaufbereitung und damit die Verzehnfachung des Atommülls mindestens bis 2005 erlaubt, und ein Endlager Gorleben samt Konditionierungsanlage wird nicht ausgeschlossen.

Sie hätten ihr Ziel erreicht, freute sich damals Otto Majewski von den Bayernwerken: „Die rot-grüne Bundesregierung wäre durchaus in der Lage gewesen, den Bestand und den Betrieb der deutschen Kernkraftwerke nachhaltig zu beeinträchtigen.“ Nur in einer Hinsicht unterlief den Atombossen ein Fehler: Der von Rot-Grün auf die Reise geschickte Atommüll stieß keineswegs auf mehr Akzeptanz bei den Bürgern als vorher.

Es geht nicht um Schnürsenkel. Es geht um Atomenergie und die gesellschaftliche Kettenreaktion

Und das, obwohl das grüne Bundesumweltministerium ein ums andere Mal behauptete, hier ginge es um die völkerrechtlich verbindlich vorgeschriebene Rücknahme des deutschen Mülls aus La Hague. Das aber ist nur die halbe Wahrheit: Die Atomtransporte nach Gorleben schaffen in La Hague Platz für weitere Brennelemente aus deutschen Atomkraftwerken, sodass die Wiederaufbereitung in ihrer ganzen Gefährlichkeit fortgesetzt werden kann – und der Betrieb der Meiler ebenfalls. Im Gegensatz zu ihrem deutschen Amtskollegen Trittin erklärte sich die französische Umweltministerin Dominique Voynet deshalb mit den CastorblockiererInnen solidarisch und beglückwünschte die WendländerInnen „zu ihrer unglaublichen Mobilisierungskraft“. Weder in La Hague noch in Lüchow-Dannenberg, so die Chefin der französischen Grünen, akzeptiere die Bevölkerung die Abladeplätze für Atommüll.

Und dennoch bemühen sich fast alle deutschen Grünen reflexartig zu versichern, sie hätten nicht vor, den Atomkonsens neu zu verhandeln. Aber was ist mit einem Vertrag, der politisch nicht durchsetzbar ist? Er ist Makulatur. Reif fürs Altpapier. Zumindest der Teil des nuklearen Szenarios, der Atomtransporte, Zwischenlager und Endlager umschließt, ist definitiv nicht durchsetzbar. Das sagt nicht nur Rebecca Harms, das sagen auch Polizeisprecher sowie der niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel und andere hohe Sozialdemokraten. Sie alle wissen: Noch so ein Einsatz, dann meutert womöglich auch noch die Polizei.

166 Castor-Transporte aus La Hague und Sellafield bis 2010 – das kostet Milliarden, das wird finanziell und politisch unerträglich. Doch die grünen MinisterInnen und Abgeordneten schweigen eisern. Es ist schier unglaublich. Kein Wunder, dass die Lüchow-DannenbergerInnen verbittert behaupten: Grün ist der Polizeistaat. UTE SCHEUB