nebensachen aus algier: Junge Paare unterliegen strenger Kontrolle
Chatten statt Händchen halten
Wer in Algier von einem öffentlichen Telefon aus telefonieren oder eine E-Mail senden will, muss verdammt viel Geduld mitbringen. Zwar gibt es an jeder Straßenecke ein Taxiphone – einen Telefonladen mit bis zu einem Dutzend Apparaten – oder ein Cybercafé mit den modernsten Computern, doch alle sind überfüllt.
Algiers Jugend hat das Kommunikationsfieber gepackt. Stundenlang hängen die Jugendlichen am Hörer oder vor dem Bildschirm. Am anderen Ende sitzt „la copine“ – die Freundin – oder „le copin“ . Und da wird gesülzt, was das Zeug hält. Obwohl die Meisten auch zu Hause ein Telefon haben, zieht es sie nach draußen, denn im überfüllten Taxiphone oder Cybercafé sehen sie ihre Intimität immer noch deutlich besser gewahrt als im heimischen Wohnzimmer. Denn meist dürfen die Eltern von der ersten zarten Liebe nichts wissen.
„Unmoralisch“ würden sie es ohne Zögern nennen. Die E-Mail oder das Chatten ermöglicht den Flirt auch über die Landesgrenzen hinaus. Beharrlich halten sich die Gerüchte von einer virtuellen Liebe, die zum Traualtar und damit zum begehrten Visum nach Europa oder Kanada geführt haben soll.
Für viele ist das Telefongespräch ein notgedrungener Ersatz für das Händchen halten. Denn Algerien ist selbst in der Hauptstadt von muffiger Enge. Ein Pärchen, das im eigenen Stadtteil zusammen ausgeht, läuft Gefahr, von Nachbarn gesehen und übel beleumdet zu werden.
Deshalb zeigen junge Paare ihre Gefühle nur selten in aller Öffentlichkeit. Wenn überhaupt, dann sind sie vor den Toren Algiers in den Nobelbadeorten Sidi Ferruch oder Zeralda anzutreffen. Dort allerdings kann sich nur einen lauschigen Nachmittag leisten, wer über ein Auto und vor allem über das nötige Kleingeld verfügt.
„Tschitschis“ nennen die „normalen“ Jugendlichen in den übervölkerten Innenstadtbezirken ihre reichen Altersgenossen, die in der Mehrheit in den Villenvierteln auf den Hügeln rund um die Hauptstadt aufwachsen. Doch auch die Freiräume dieser gut betuchten Jugend schrumpfen immer mehr.
Waren es Anfang der Neunzigerjahre die Islamisten, die an den Stränden und auf der Uferpromenade mit Stöcken bewaffnet für Anstand sorgten, ist es neuerdings die Polizei. Sie macht regelrecht Jagd auf junge Paare. Wer keinen Trauschein vorweisen kann, wird aufs Revier mitgenommen. Die Eltern werden verständigt. Und dann nimmt das Drama seinen Lauf.
Vor allem die Eltern von Mädchen sind zumeist schockiert. Schließlich droht der Ruf der Familie zu leiden, sollten Nachbarn oder Verwandte von den Eskapaden der Tochter erfahren. Und das tun sie fast zwangsläufig, denn der Besuch auf dem Revier endet wenige Tage später vor dem Richter. Auch wenn die Geldstrafen gering ausfallen, ist die Schmach riesengroß. Und wenn der Vater der „Copine“ auf stur schaltet, bleibt nur die Flucht in die Ehe.
Mehrere Dutzend couragierter Pärchen beschlossen Anfang März, der Rückständigkeit die Stirn zu bieten. Sie trafen sich in Staoueli, einem der Ausflugsorte vor der Hauptstadt, um Händchen haltend einen Protestspaziergang zu machen. Die Polizei trieb sie auseinander. Den Pressefotografen wurden die Filme entwendet. Zwanzig Personen wurden verhaftet. Auf sie wartet jetzt der Richter.
REINER WANDLER
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