: Das Uferlose im Popsong
Herumhampelnder Prä-Postrock? Punkrock für die Elterngeneration? „Tortoise“ kehren dahin zurück, wo es weh tut ■ Von Andi Schoon
Böse Menschen behaupten gelegentlich, die Musik von Tortoise sei eigentlich sterbenslangweilig, aber man könne tolle Artikel über sie schreiben. Da mag auch ein Funken Wahrheit dran sein. Angefangen hat aber alles ganz anders:
Ein guter Freund kam total begeistert aus London zurück, so randvoll mit Inspiration, dass man es kaum ertragen konnte. Er war zufällig in die ersten Europa-Auftritte von Tortoise gestolpert, in kleinen Läden vor wenigen Zuschauern. Auf den Fotos, die er von diesen denkwürdigen Ereignissen gemacht hatte, konnte man kaum etwas erkennen, weil die Linse von dem ganzen Dunst total beschlagen war: Da hauten schemenhafte Gestalten wie verrückt auf Schlagzeugen und Vibraphonen herum, aus ihren eingefrorenen Gesten sprach überschäumende Spielfreude. Bei genauerem Hinsehen entdeckte ich John McEntire, das tätowierte Tier, das schon bei der Band Bastro unappetitlich sabbernd die Felle verprügelt hatte. Während er spielte, konnte man fast nie seine Pupillen sehen, immer nur das Weiße. Mein Freund fragte ihn nach dem Londoner Konzert – seltsam genug –, wie er wohl seiner Mutter die Musik von Tortoise erklären würde. McEntire antwortete, dass er ihr sagen würde, es sei Punkrock. Das war 1994. Wenig später, als der Spuk via City Slang auch Deutschland erreicht hatte, fertigten die eifrigsten unserer Lieblingsjournalis-ten so eine Art Schnittprotokolle ihrer Stücke an. Da gab es ja auch wirklich viel aufzuschreiben. Das Quintett aus Chicago sprühte vor noch nie gehörten Breaks und Patterns, die sofort erahnen ließen, dass hier ein paar Typen einen gewaltigen Vorsprung hatten. Tortoise galten fortan als die Gallionsfiguren einer ernsthaften und zunächst namenlosen Auseinandersetzung mit der Musikgeschichte. Auf ihrer ersten Platte umspielten sie mit Versatzstücken aus Jazz, Minimal Music, Elektronik und Indierock eine geheimnisvolle Leerstelle. Dann vergingen ein paar Jahre. Die einstige Leerstelle wurde bis zur zweiten Platte „Postrock“ benannt und bis zur dritten uncool.
Tortoise sind für den Zustand des Genres, das um sie herum gebaut wurde und dem sie stets zwei Jahre voraus waren, bezeichnend geblieben. Die Geschichte von Postrock ist die von Tortoise. Und die Geschichte von Tortoise ist die ihrer Umbesetzungen. Angefangen hatten sie, um aus ihrem bescheidenen Verständnis großer alter Platten eigene Schlüsse zu ziehen. Neue Instrumente und Strukturen wurden nicht bis ins Letzte beherrscht, sondern erst einmal erprobt. Im Laufe der Jahre verstärkten sich Tortoise dann um Mitspieler, die sich mit sowas ernsthaft auskannten. Das aufregende Nicht-Verstehen der benutzten Elemente mischte sich mit abgebrühter Professionalität. Ungefähr hier dürfte sich der Schritt in das Stadium ergeben haben, das manche Menschen dazu bringt, ihre Musik als „elenden Muckerscheiß“ oder eben „sterbenslangweilig“ einzustufen. Andere halten die ausladenden Werke Millions Now Living Will Never Die ('96) und TNT ('97) für Meilensteine. Tortoise waren auf diesen zwei Platten damit beschäftigt, sich zu entziehen und unberechenbar zu bleiben. Mit ihrer neuen Veröffentlichung, die den programmatischen Titel Standards trägt, haben sich Tortoise nun erstmals darauf eingelassen, ihrem eigenen Klischee zu entsprechen. Denn auf einmal erkennt man sie an ihrer Art der Melodieführung, ihren Tricks und ihren Klangfarben. Tortoise sind jetzt ganz sie selbst und verpacken die verqueren Kenntnisse, die sie sich über die Jahre erarbeitet haben, in turbulente „Songs“, voll von originellen Manövern. Da glitzert wieder der luxuriöse Punkrock, so als seien sie gerade erst Anfang 20 und total verbildet. In der letzten Ausgabe der Cosmopolitan konnte man unter der Überschrift „Cool Dance“ sogar etwas von „sexy Vibraphonen“ lesen.
Und was dürfen wir von ihrer diesjährigen Livepräsentation erwarten? Könnte es sein, dass Tortoise rumhampeln wie auf den Fotos der Londoner Auftritte, die inzwischen bei meinem Freund auf dem Regal stehen wie eine melancholische Erinnerung? Eigentlich lässt John McEntire ja nur noch selten die Zunge aus dem Hals hängen. Oft spielt er sogar mit geschlossenen Augen. Aber wer weiß, wenn man genau hinsieht erkennt man vielleicht, dass er unter den Lidern die Pupillen wieder nach oben verdreht.
Donnerstag, 21 Uhr, Fabrik
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