eine woche im april: Vielleicht wäre man besser in ein anderes Abteil gestiegen
Menschen im Zug und andere Unglücke
Ich nehme den Interregio „Ostfriesland“ von Berlin Ostbahnhof nach Leer und setze mich in ein Großraumabteil. Schräg gegenüber von mir sitzt eine junge Frau. Am Zoo steigt ein Mann ein, fragt, ob an ihrem Tisch noch ein Platz frei sei, und als sie bejaht, setzt er sich zu ihr. In Potsdam stößt eine andere, ein wenig älter aussehende Frau zu den beiden.
Die drei stellen sich vor, tauschen das Wichtigste aus, woher man kommt und wohin es geht. Keiner von ihnen ist dem anderen je begegnet, jedenfalls nicht bewusst, nicht so, dass man sich wiedererkennen würde.
Trotzdem ist ihnen, als ob sie sich schon einmal gesehen hätten, sie zählen die Orte auf, die sie regelmäßig besuchen, die Clubs, die Supermärkte, die Coffee-Shops und die Partys, zu denen sie in letzter Zeit eingeladen worden sind, aber es findet sich keine Gemeinsamkeit. Es stellt sich heraus, dass jeder von ihnen in einem anderen Stadtteil lebt und einer anderen Beschäftigung nachgeht. Er ist Grafiker, sie arbeitet in einer Bank, und das Mädchen, das sich als Erste an den Tisch gesetzt hat, studiert Kulturwissenschaften. Sie sind zwischen 25 und 30 Jahre alt und, wie sich ihrer Unterhaltung entnehmen lässt, einander nicht unsympathisch.
Als das Gespräch mehr und mehr ins Stocken gerät und die Pausen zwischen den Antworten und den neuen Fragen immer länger werden, kurz vor Hannover, schläft die junge Frau ein. Als sie wieder aufwacht, nur wenige Minuten später, sieht sie an der Art, wie sich die beiden gegenüber berühren, dass sie sich inzwischen näher gekommen sein müssen. In Hannover steht die junge Frau auf, etwas überstürzt packt sie ihre Sachen zusammen, vielleicht sucht sie einen Grund, die anderen zu verlassen, fühlt sich ausgeschlossen oder findet die plötzliche Intimität unangenehm. Jedenfalls nimmt sie ihren Koffer von der Ablage, zieht ihre Jacke an und sagt: „Man sieht sich.“
Der Mann und die Frau machen, nachdem das Mädchen den Zug verlassen oder den Waggon gewechselt hat, dort weiter, wo sie aufgehört haben, aber ihre Bewegungen werden immer versteckter, als schämten sie sich für ihre Gefühle.
Sie richten sich in ihren Sitzen auf und streichen sich gegenseitig über die Wangen, bis der Zug in den Bremer Hauptbahnhof einfährt. Sie bittet ihn, zu bleiben, schlägt vor, gemeinsam das Wochenende bei ihren Eltern oder auf einer der vor der Küste gelegenen Inseln zu verbringen. Er aber sagt, dass er im Auftrag seiner Firma einen wichtigen Termin wahrzunehmen habe. Er gibt ihr seine Karte und bittet sie, sich bei ihm in Berlin zu melden, sobald sie wieder in der Stadt ist.
Lange schaut die Frau auf seinen Namen, während der Zug weiter gen Westen fährt. Sie streift mit dem Fingernagel über die Oberfläche des Papiers, wie jemand, der hofft, beim Rubbeln sein großes Glück zu machen – nur dass hier keine Zahlen sichtbar, sondern Buchstaben unsichtbar werden. Und bevor wir Leer erreichen, wirft sie die Karte in den Mülleimer.
JAN BRANDT
(wird fortgesetzt)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen