: Die Weberinnen von Potolo
In einem Hochtal der bolivianischen Anden wird bis heute das traditionelle Hüfttuch, der Axsu, gewebt. Die Indiofrauen selbst tragen diese gemusterten Tücher mit mythologischen Zeichen außer zu Festen kaum noch, aber sie sichern ihnen einen wichtigen Nebenerwerb im Tourismus
Unser betagter camión dieselt mit gewaltigem Lärm und grauschwarzen Abgaswolken die Schotterstraße zum Pass hinauf. der Lastwagen mit offener Ladefläche ist das gängige Transportmittel in den ländlichen Bergregionen Boliviens. Unten im Tal liegt auf fast 3.000 Meter Höhe das Städtchen Sucre – ein weißer Klecks in dem lehmbraunen, baumlosen Tal. Deutlich sind die Kirchtürme zu erkennen. Sie beherrschen das regionale Zentrum für etwa 100.000 Einwohner, das seine größte Bedeutung in der Kolonialzeit hatte. Heute ist der Putz an den barocken Herrenhäusern und Verwaltungsbauten an zahlreichen Stellen abgefallen, ohne dass sich jemand daran stört.
Potolo heißt das Ziel unserer Fahrt. Das Dörfchen hoch oben in den Bergen ist von weitem kaum zu sehen, so gut passen sich die Häuser aus braunen Lehmziegeln der Umgebung an. In dem überraschend fruchtbaren Tal rund um Potolo kultivieren die Jalq’a in 3.500 Meter Höhe das Land mit Hacke und Holzpflug. Der Anbau von Mais, Weizen und auch von Kartoffeln reicht zur Selbstversorgung. Elektrische Steckdosen und Wasserhähne gibt es nicht. Zur Begrüßung auch nicht das in Südamerika allgegenwärtige „Cómo estás?“, sondern ein „Allillan kas’hanki“ in Quechua. Spanisch wird hier nicht gesprochen, selten verstanden. Auch die Transistorradios, die hier in den Häusern plärren, kennen nur den lokalen Sender mit dem merkwürdig zischenden Quechua, einstmals Amtssprache im Inkareich.
Aber es gibt Ausnahmen: Wenn ein Fremder in das indianische Dorf kommt, versammelt sich eine Horde von Kindern auf der Dorfstraße. „Turistas, turistas!“ schreien sie und wollen, dass die Fremden in die Häuser kommen, um die „Axsus“ anzusehen, den Schatz der Jalq’a. Die Kinder führen in das kleine Lehmhaus. In dem einzigen Zimmer wohnt und schläft die ganze Familie. Auf dem Boden picken die Hühner. Einen Schrank gibt es nicht. Die Kleider werden über zwei Schnüre gelegt, die von Wand zu Wand gespannt sind. Hier wird auch der Axsu aufbewahrt. Dieses handtuchgroße Webstück ist das Schmuckstück der Jalq’a-Tracht. Es ist eine Schürze, die nicht vor dem Bauch, sondern über dem Gesäß getragen wird.
Der Axsu hat keinen erkennbaren praktischen Nutzen, außer dem einen: Er gehört dazu, und wer ihn trägt, gehört auch dazu – zum Dorf, zum Tal, zu den Jalq’a. Mit dem Axsu zeigt die Weberin ihr Können und präsentiert ihr bestes Stück: Schwarz und Rot sind die Farben, mit denen die verschlungenen Ornamente gewebt werden. Hauptmotiv sind Tiere: Schlange, Schaf, Vogel und vor allem fantastische, monsterartige Lebewesen aus einer anderen Welt. Die Ornamentik ist scheinbar regellos: Große und klitzekleine Darstellungen stehen nebeneinander und gehen ineinander über.
Seit je versucht die Wissenschaft, die Axsu-Motive zu deuten. Sie schließt von den Darstellungen auf mythische Überlieferungen der Jalq’a-Kultur. Wenn man die Weberin fragt, die gerade am Webstuhl hockt und den Kettfaden mit dem Stock durch die Schussfäden zieht, warum sie den Kondor neben der Schlange darstellt, sagt sie: „Der Kondor war immer im Muster, und das Muster habe ich von meiner Mutter gelernt.“
Unsere europäischen Vorstellungen lassen wenig Raum für das allgegenwärtige Zauberreich der Geister und Dämonen. Ein Beispiel: In der Dämmerung kommen die duintis. Das sind Wesen, die in ganz verschiedenen Erscheinungen auftreten: Es sind weiße Kobolde, oder es sind Trolle, die dich verschleppen, wenn sie sich nicht in einen kalten Lufthauch verwandeln, oder es sind kleine Babys, die vor dir auf der Straße liegen, und beim Näherkommen siehst du, dass sie das Gesicht eines alten Mannes haben. Die duintis werden überall und jederzeit geachtet und gefürchtet. Weil sie immer anwesend sind, darf man nur im Flüsterton von ihnen sprechen. Sie beherrschen die Dunkelheit, und niemand in Potolo und Umgebung wagt sich bei Nacht allein vor das Haus.
Die älteren Frauen sieht man grundsätzlich in der typischen dunklen Jalq’a-Tracht mit dem schwarzroten Axsu. Dagegen haben die jungen Frauen meistens nur ein einziges Exemplar, das sie in einer Plastiktüte an der Zimmerwand aufbewahren. Nur bei Hochzeiten und zu anderen hohen Anlässen schmücken sie sich in der herkömmlichen Weise. „Ich möchte nicht von gestern sein“, sagen sie oder, noch häufiger: „Die Kleider aus der Stadt sind einfach praktischer und viel bequemer!“ Auch bei den Männern ist die seltsame weiße Tracht selten geworden. Die jungen Jal’qa-Männer gehen in die Stadt zum Arbeiten und wollen dort nicht auffallen. Das ist auch Selbstschutz: „Wenn du eine Tracht trägst, versuchen sie, dich übers Ohr zu hauen.“
Trotzdem steht der zweibeinige Webstuhl noch in jedem Hof. Die jungen Mädchen erlernen die Technik, sobald sie den Webstock halten und die verschiedenfarbigen, straff gespannten Wollfäden an sich ziehen können. Die rätselhaften Muster bleiben unverändert oder genauer: fast unverändert. Denn seit sich die Fremden und Städter für die Jalq’a-Gewebe interessieren, verändern sie auch die Muster: „Ich webe den Kondor, weil er den Touristen gefällt und weil sie kaufen“, sagte eine der Frauen. Und die Reiseführer verstärken diesen Trend: Etwa alle zwei Wochen kommt ein Reisender mit dem camión nach Potolo herauf, um Axsus zu besichtigen und vielleicht auch einen als Andenken mitzunehmen. Die Weberinnen verteidigen die verlangten Preise: „Für diesen habe ich ein halbes Jahr gebraucht“, erklärt Saturnina, und zeigt vielsagend auf ihre sechs Kinder. „Sehen Sie dieses Muster, es ist von meiner Mutter!“ Nach einigem Hin und Her steht der Preis fest: hundert Dollar. LUCYA JAY
ASUR (antropólogos del surandino) heißt die unabhängige Stiftung, die das chilenische Ehepaar Cereceda gegründet hat. Sie hat in Sucre ein Museum eröffnet, in dem sie die Kultur der Jalq’a und der Tarabuco vorstellt. Zentrum der Ausstellung in dem alten Patrizierhaus sind die bedeutungsvollen Webarbeiten.Die Stiftung will aber noch mehr: Im Museumsshop können die Besucher einen Axsu erwerben, die Preise gehen hier bis zu 200 Dollar. Die Weberin in Potolo bekommt davon etwa zwei Drittel. Dadurch hat sich das Weben für viele Frauen vom Nebenverdienst zur Haupterwerbsquelle entwickelt.
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