Angel Heart in Surinam

Platz 4

Jetzt, wo ich diese Geschichte erzähle, kommen die Eindrücke wieder: der Regen, das unbeschreibliche Grün, der Schweiß überall auf meinem Körper, das Gefühl, eine fremde Welt zu betreten.

Ich war von Französisch-Guayana nach Surinam gefahren, auf dem Weg nach Venezuela. Die einzige Straße Surinams führt an der Karibikküste entlang, im Inneren gibt es nur Wasserwege. Ich nächtigte in einem kleinen Hotel in der Hauptstadt Paramaibo. Als ich eines Nachmittags nach einem Einkaufsbummel auf dem Markt zwischen Indern, Afrikanern, Indonesiern, Indios und Chinesen wiederkam, waren 150 Dollar aus meinem Zimmer verschwunden. Ich schrie den Hotelchef an, verlangte Aufklärung. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass einer seiner Leute Geld aus einem Zimmer stehlen würde. Dann willigte er aber trotzdem ein, zur Polizei zu gehen: Er hatte Angst um den Ruf seines Hotels. Schließlich gibt es ohnehin kaum Touristen in Surinam.

Wir gingen zur Polizei, wo er etwa eine halbe Stunde mit den Polizisten diskutierte, dann verkündete er mir das Ergebnis der Unterredung: Um weitere Schritte zu unternehmen, sei es notwenig herauszufinden, ob wirklich jemand etwas gestohlen hätte und wer es sei. Ich war verblüfft von dieser Logik, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Er erklärte mir weiter, wir müssten zu einem Mann fahren, der es wüsste, erst dann könnte die Polizei aktiv werden.

Wir kamen mit dem Jeep bis zu einer Anlegestelle für Boote, wo die Straße ins Landesinnere endete. Dann bestiegen wir ein Boot und fuhren fast eine Stunde durch Mangrovensümpfe und Regenwälder. Surinam, das ist Regenwald, 80-prozentige Luftfeuchtigkeit und unglaublich viele Moskitos.

Während der Fahrt sahen wir keinen einzigen Menschen, dafür Affen, Krokodile, Tukane, Papageien und Wasserschlangen. So weit so gut, dachte ich, aber wo zur Hölle will er mit mir hin? Ich hatte ein komisches Gefühl im Magen.

Dann stoppte das Boot und wir sahen zwei Hütten am Ufer. Wir waren angekommen. In der einen Hütte gab es keine Fenster, der Boden war voll von Glasscherben, in der Ecke hockte ein alter Mann. Bevor wir Gelegenheit hatten, etwas zu sagen, erklärte er, er habe uns erwartet. Er nannte den Namen eines Hotelboys, bestätigte den Diebstahl und fügte hinzu, der Mann hätte gestohlen und würde dafür bezahlen.

Wir fuhren zurück und suchten den Hotelboy. Er war weg. Seine Schwester erzählte uns, er habe Probleme und Schulden. Noch zwei Tage versuchten wir, ihn zu finden. Er war wie vom Erdboden verschwunden. Ich hatte genug, war genervt von diesem Zinnober und machte mich endlich auf den Weg nach Venezuela.

Ein halbes Jahr später in Hamburg bekam ich einen Brief aus Surinam. Der Hotelmanager schrieb einen langen Brief, in dem er erzählte, der Hotelboy sei einen Monat nach dem Diebstahl in einem Goldsuchercamp an der Grenze zu Brasilien erstochen worden. Er schickte mir 149 Dollar, die er und die Familie des Toten gesammelt hatten, um dessen Seele zu befreien.

Ich schaute aus dem Fenster, wer würde mir hier diese Geschichte glauben, aus einer Welt, die keiner kennt. ANDREAS WENCK