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Kaffee aus Karthago

Platz 2

Am Rande der Stadt, von der Außenwelt abgeschnitten, liegt Al-Dschallas, der Friedhof der Muslime.

„Enta faransaui?“, fragt mich ein alter Mann, „bist du Franzose?“ – „La ana almani“, eröffnete ich ihm. – „Sidi Abu ’l-Hassan Al-Schasli“, fragte ich. Sein Begleiter bietet mir eine Zigarette an: „Haschisch . . .“ O nein, mein Freund, ich liebe den Kaffee . . .!

Sidi Abu ’l-Hassan Al-Schasli, ein weit gereister Mann im 13. Jahrhundert, hat nicht nur die Mystik der Sufis aus Bagdad mitgebracht, er war auch im Jemen ein Entdecker: Tunis verdankt ihm den Kaffee. Er starb 1258 in Kairo; dass er tatsächlich hier in Tunis begraben liegt, stimmt nicht so ganz. Der ehrwürdige Ort auf dem Berg, an dem wir jetzt stehen, war jedenfalls eine Stätte der mystischen Versenkung und wahrscheinlich die erste Kaffeeküche in Tunesien.

„Kamerad“, sagt der alte Mann auf Deutsch, macht mir ein Zeichen zu warten und verschwindet.

Die Männer strömen aus der Moschee, Nadelstreifen, Bluejeans, Kapuzenmäntel, alle auf Strümpfen – die Demokratie der Religion. Innen, im Dämmerlicht, lagern Frauen und Kinder. Der alte Mann, den ich nach dem Grab gefragt habe, kommt mit einem Hünen von Araber, der mich kritisch mustert, aus dem Gewimmel zurück. Dann nimmt er stumm meine Hand und zieht mich zu einer Türöffnung. Ich stocke.

Wie ist es, wenn man erblindet? Wird man von einer Welle der Phantasie überwältigt, wie nie zurvor gekannten Empfindungen und Gefühlen? Oder ist zuerst die Angst da, vor Dunkelheit und Nacht? Ich lasse mich führen wie ein Kind, spüre die Berührung von Körpern und Stimmen! Ein Chor von fern, der langsam anschwillt, Silben in endloser Wiederholung. Ich halte die faszinierend fremde Hand fest, meinen einzigen Halt. Nun bin ich von Männern umgeben, eingehüllt in die drohende, tröstende, geheimnisvolle Litanei. „Etkalim arabi“, flüstert mein Führer, „sprich arabisch“, und verschwindet.

Ich sage gar nichts und lasse mich sinken, auf den Teppichboden und in eine Welt der Metaphysik. Die Augen sind nutzlos, die Ohren versuchen zu verstehen: drei ewige Silben vibrierende Konsonanten. Niemand, auch später nicht, hat mir den Sinn verraten.

Ich vermute, ich bin mitten im „Dhikr“, der geheimnisvollen Meditation der Tarika, so wie mein Freund Massoud vorgestern erzählte. Der Islam kennt zwei Wege zu Allah: Die Scharia ist der Weg des Gesetzes, der Ratio also – „tarik“ ist der Weg der Sufis, der Mystiker, der Weg des Herzens. Die verschiedenen Sufi-Schulen – arabisch: Tarika – üben die Meditation auf verschiedene Weise, stumm, betend, singend, tanzend. Der Name Allahs, bestimmte Suren, die mystische Silbe „HU“ – das heißt: ER, nämlich Gott – bewirken, stundenlang wiederholt, das gleiche wie die Drehung der Derwische von Konya: Die Versenkung – wenn man so will: Die Ausschaltung des Intellekts. Langsam beginnen die Lippen, die Silben zu formen. Laute steigen zu Kopf wie Drogen; ein M vibriert, ein H entspannt, das A öffnet, das U verschließt. Die Sprache wirkt auf den Körper, wie nicht nur die Sufis wissen. Die Fremdheit schwindet. Der Fremde wird eins mit den anderen. Die Zeit vergeht, sie löst auf. Der Raum ist schwarz und endlos, die Litanei ein Meer: Wenn man ertrunken ist, dann ist man auch geborgen.

Es mag eine Stunde vergangen sein, ein Stück Ewigkeit. Die Augen werden erweckt von einem scharf gebündelten Lichtstrahl, der auf mich fällt, den Fremden in der Camera obscura. Ich sitze als Einziger auf dem Boden, alle anderen stehen versunken in die Meditation. Sieht mich jemand? Wacht jemand auf? Ich stehe rasch wieder auf, taste mich langsam den Lichtstrahl entlang. Der Verstand wird wach aus tiefem Schlaf. Ein Sonnenstrahl findet den Weg durch jedes Schlüsselloch – so einfach sind Wunder. Der Strahl ist wie ein Weg. Wohin? Zu wem? Zum Licht? Geblendet stehe ich vor der Moschée. Geblendet von tausend Fragen.

Hat der Lichtstrahl einen Namen? Ibn Chaldun, der arabische Descartes? Die Legende von den Schriften des Sanchuniaton? Oder ganz einfach der Genuss dessen, was Sidi Abu ’l-Hassan Al-Schasli brachte, der mystische Entdecker des Kaffees?

Ich für meinen Teil verlor hier mit Freuden den Verstand für Momente und glaubte zu verstehen: Südlich von Europa erzählt der Sonnenstrahl den Menschen in anderem Dialekt vom Reichtum dieser Welt.

HELMUT GERHARD RAMON RASCHKE

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