: Eine Woche im Nirgendwo
Platz 1
von DÖRTE HOFFMANN
„Sind Sie ganz alleine, Ma’am? Wohin gehen Sie? Brauchen Sie ein Zimmer? Ich heiße Sanjeev, ich habe ein schönes Zimmer für Sie, Ma’am.“
Er ging einige Schritte hinter mir, eine ganze Weile schon, und seine Stimme umschwirrte mich wie ein Schwarm Fliegen. Er war nicht abzuschütteln.
„Sie sind sicher müde, Ma’am. Es ist sehr heiß. Es ist nicht gut, in der Sonne zu gehen. Mein Zimmer ist sehr billig“, sagte er.
Die Sonne stand fast senkrecht am Himmel, auf dem Asphalt flimmerte der Glist, selbst der Wind, der durch die Palmenreihen vom Meer herüberwehte, war feucht und heiß. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war, irgendwo an der Küste zwischen Bombay und Panaji, ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, ich hatte keine Geduld, nicht für mich selbst, erst recht nicht für Sanjeev.
„Lass mich einfach in Ruhe“, sagte ich, „bitte!“
„Gut, Ma’am, ich lasse Sie in Ruhe, vollkommen in Ruhe. Aber was ist mit dem Zimmer? Wollen Sie mein Zimmer? Es ist nicht gut, wenn Sie hier herumlaufen. Es ist zu heiß.“
„Ich weiß selbst, dass es heiß ist. Du brauchst es mir nicht zu sagen. Sag überhaupt nichts.“
Wir setzten unseren Weg fort, ich schleppte mich die Straße entlang, er folgte mir mit einigen Schritten Entfernung.
„Sie sind krank, Ma’am. Ich sehe das. Warum ruhen Sie sich nicht aus?“ – „Ach, tatsächlich“, sagte ich mit spöttischer Stimme, aber es war zu spät. Meine Tränen ließen sich nicht mehr beherrschen, meine Stimme nicht, meine Beine nicht. Ich ließ mich einfach zu Boden sinken, an den Straßenrand, vielleicht gab es Schlangen, was dachten die Menschen um mich herum, es war mir egal, alles war mir egal, ich war am Ende meiner Kräfte. Ich konnte nicht mehr aufstehen. Mein Atem ging stoßweise und ich musste mich immer wieder übergeben, zum zehnten, zum zwanzigsten Mal in den letzten Stunden, mein Körper zitterte, ich hatte das Gefühl, mein Leben von mir zu geben. Ich merkte noch, dass Sanjeev sich neben mich hockte, er stützte mich, er hielt meine Hand, er strich mir über die Haare.
Ich wachte in einem Bett auf, ein Zimmer mit geschlossenen Holzjalousien, ich hörte das Geräusch naher Wellen. Mein Kopf war schwer, ich fühlte das Blut in meinen Schläfen pochen, ich schlief wieder ein, wachte wieder auf. Es verging viel Zeit, aber darum kümmerte ich mich nicht. Ich wollte aufstehen, ich konnte es nicht. Etwas hatte meinen Körper in den einer alten, bettlägrigen Frau verwandelt, ich hatte kaum Kraft, meine Arme zu heben. Ich wollte schlafen, ich durfte nicht schlafen, wo war ich?
In meinen Träumen sah ich Bilder aus der Stadt: Die mit Menschen überfüllten Straßen, die altersschwachen Häuser, die bunten Farben der Frauen, ich roch das verfaulte Wasser aus den Kanälen, ich spürte die tausend Hände der Armen, die mich berührten, die von Autoabgasen dunkle Luft legte sich brennend in meine Lungen, meine Füße traten auf etwas Weiches, Unsichtbares, und als das Licht heller wurde, sah ich, dass es die Körper schlafender Kinder waren. Dann wachte ich auf und spürte, dass mein Körper immer noch im Fieber glühte.
Ich war schon krank, als ich die Stadt verließ, als ich in den Bus gestiegen bin, um in das vermeintliche Paradies zu flüchten, von dem mir so viele vorgeschwärmt hatten. Nach 30 Kilometern übergab ich mich zum ersten Mal, die anderen Fahrgäste grinsten. Es hörte nicht auf, mein ganzer Körper schien sich aufzulösen, alle Plastiktüten waren verbraucht, das Grinsen im Gesicht meiner Mitreisenden verwandelte sich in Abscheu, ich habe den Fahrer gebeten, anzuhalten, bin ausgestiegen, irgendwo zwischen zwei Dörfern, deren Namen ich nicht kannte.
„Wie gefällt Ihnen das Zimmer, Ma’am? Habe ich Ihnen zu viel versprochen? Sehen Sie selbst!“
Ich machte die Augen auf. Sanjeev trat ans Fenster und stieß die Jalousien auf. Licht strömte ins Zimmer, eine milde Brise und der Geruch des Salzwassers. Ich richtete mich auf und sah vom Bett aus auf das strahlende Blau des arabischen Meeres. „Danke, Sanjeev“, sagte ich.
„Nichts zu danken, Ma’am. Sie sollten nicht alleine spazieren gehen. Nicht wenn Sie so krank sind. Das ist nicht schlau.“ – „Ich werd’s mir merken“, sagte ich. Seine Tochter brachte mir etwas zu essen, trockenes Roti und etwas Tee. Ich aß und schlief wieder ein, aber dieses Mal wusste ich, dass es der Schlaf der Gesundung war.
Ich blieb eine Woche bei Sanjeev, er saß an meinem Bett und erzählte mir Geschichten. Als ich kräftiger wurde, gingen wir zusammen zum Meer hinunter. Auf dem Sand lagen ein paar Fischerboote, ein paar Netze zum Trocknen. Gemeinsam gingen wir schwimmen.
„Es ist nicht gut zu schwimmen, wenn man krank ist“, sagte Sanjeev. „Ich muss wissen, dass ich mich wieder auf mich verlassen kann“, sagte ich. „Sie können sich auf mich verlassen“, sagte er. „Ich weiß.“
Ich traf mit einer Woche Verspätung in Panaji ein, alle hatten sich furchtbare Sorgen gemacht. „Es geht mir gut“, sagte ich. „Wo warst du?“ – „Ich weiß es nicht. Aber jetzt bin ich wieder da.“
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