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„Wir produzieren die Diktatoren“

Ein jeder hat seinen Anteil an der Erzeugung der Welt, in der er lebt: der chilenische Systemtheoretiker Humberto Maturana über die Ohnmacht der Macht, die Macht der Unterwerfung, Verantwortung und das Leben in der Diktatur von Pinochet

Interview BERNHARD PÖRKSEN

Bernhard Pörksen: Wenn man Ihre Arbeiten liest, dann erfährt man stets etwas über die Autonomie des Einzelnen, seine besondere Art, die Welt zu sehen und sich in ihr zu bewegen. Sie sagen: Jeder Mensch folgt im Erkennen und Handeln seinen ganz eigenen Gesetzen; er ist ein weitgehend geschlossenes System. Das ist eine Auffassung, die dem Konzept einer direkten Steuerung enge Grenzen setzt. Ist nicht aber die Ausübung von Macht und Zwang in Diktaturen ein Paradebeispiel, das zeigt, in welchem Ausmaß sich Menschen extern steuern und bestimmen lassen?

Humberto Maturana: Nein, das ist nicht der Fall. Da ich selbst in einer Diktatur gelebt habe, weiß ich, wovon ich spreche. Seltsamerweise entsteht Macht erst durch Gehorsam. Sie ist die Folge eines Akts der Unterwerfung, der von den Entscheidungen und der Struktur desjenigen abhängt, der sich unterwirft. Sie wird jemanden, der als Diktator auftritt, zugestanden, indem man tut, was er möchte. Macht gibt man einem Menschen, um etwas – das eigene Leben, die Freiheit, den Besitz, eine bestimmte Beziehung, den eigenen Arbeitsplatz usw. – zu erhalten, das man sonst verlieren würde. Kurz gesagt lautet meine These: Unterwerfung ist die Ursache, Macht ist die Folge. Wenn ein Diktator oder irgendein Mensch sein Gewehr auf mich anlegt und mich zu einer bestimmten Handlung zwingen will, dann bin ich es, der sich überlegen muss: Möchte ich diesem Menschen Macht geben? Vielleicht ist es für einige Zeit sinnvoll, seinen Forderungen Folge zu leisten, um ihn dann in einem günstigen Moment zu besiegen.

Gilt das, was Sie sagen, beispielsweise auch für die Diktatur der Nationalsozialisten? War es der Terror der Gestapo, der Adolf Hitler Macht gab? Oder haben sich die Menschen entschieden, einem drittklassigen Anstreicher aus Österreich die Macht zu schenken?

Es war eine bewusste oder unbewusste Entscheidung der Bevölkerung, die Adolf Hitler Macht gab. Jeder, der nicht protestiert hat, hat sich entschieden, nicht zu protestieren. Er hat sich entschlossen, sich zu unterwerfen. Nehmen wir an, dass ein Diktator auftaucht und jeden, der sich nicht fügt, ermordet. Nehmen wir an, dass sich die Menschen seines Landes weigern, ihm zu gehorchen. Die Konsequenz: Er mordet und mordet. Aber wie lange? Nun, im Extremfall wird er so lange morden, bis alle tot sind. Wo ist dann seine Macht? Er hat sie verloren.

Wie möchten Sie diese Neuformulierung des Verhältnisses von Macht und Ohnmacht verstanden wissen? Geht es um einen idealistischen Aufruf, der darauf abzielt, sich nicht zu unterwerfen? Oder meinen Sie wirklich, was Sie sagen?

Ich spreche völlig im Ernst. Man tut, so behaupte ich, immer das, was man will, auch wenn man behauptet, das man eigentlich gegen den eigenen Willen handelt und zu etwas gezwungen wurde. Niemand kann einen zwingen, einen anderen Menschen zu erschießen; aber es ist möglich, dass man sich entscheidet, das eigene Leben zu retten, und deshalb auf den anderen schießt. Die Behauptung, man sei gezwungen worden, ist eine Ausrede, die das Ziel, auch um den Preis der eigenen Unterwerfung am Leben zu bleiben, verdeckt. Wenn sich ein Mensch in dieser Situation entscheidet, diesen anderen nicht zu erschießen, dann hört man vielleicht trotzdem das Krachen eines Schusses: Er wird selbst umgebracht – und stirbt in Würde.

Auch der chilenische Diktator Pinochet ließ viele seiner Gegner verschleppen, foltern und ermorden. Wie haben Sie diese Phase der chilenischen Geschichte erlebt? Wie haben Sie sich verhalten, als Salvador Allende tot war und das sozialistische Experiment ein blutiges Ende gefunden hatte?

Ich habe den Entschluss gefasst zu heucheln, um am Leben zu bleiben und meine Familie und meine Kinder zu schützen. Gleichzeitig versuchte ich mich auf eine Weise zu bewegen und zu benehmen, die jede Gefährdung meiner Würde und Selbstachtung zu vermeiden half. Ich ging bestimmten Situationen aus dem Weg, respektierte die Ausgehsperre, diskutierte manche Themen nicht mehr in der Universität. Als die Soldaten kamen und mich aufforderten, meine Hände zu heben und mich an die Wand zu stellen, hob ich meine Hände und stellte mich an die Wand. Damals war ich mir jedoch ganz klar darüber, dass es einen Moment geben würde, in dem ich nicht mehr bereit wäre, dem Regime des Diktators Macht zu verleihen.

Möchten Sie von einer bestimmten Situation berichten?

Eines Tages, es war im Jahre 1977, nahm man mich fest und brachte mich ins Gefängnis. Der Grund war, dass ich drei Vorträge gehalten hatte. Der erste handelte von der Genesis und dem Sündenfall: Ich behauptete, dass Eva, die den Apfel aß und ihn Adam gab, ein Vorbild sein könnte. Sie war ungehorsam, und ihre Rebellion gegen das göttliche Gebot schuf die Basis für die Selbsterkenntnis des Menschen und sein verantwortliches Handeln, für die Vertreibung aus dem Paradies, der Welt ohne Selbsterkenntnis. In dem zweiten Vortrag sprach ich über den heiligen Franz von Assisi: Seine Art und Weise, den anderen Menschen wahrzunehmen, erzeugt nach meiner Auffassung einen so tiefen Respekt vor diesem anderen, dass es unmöglich wird, ihn noch als Feind zu sehen. Und ich fügte hinzu, dass jede Armee den anderen Menschen erst in einen Fremden und in einen Feind verwandeln muss, um dann in der Lage zu sein, ihn zu misshandeln und zu töten. Der dritte Vortrag war Jesus und dem Neuen Testament gewidmet: Wie lebt man zusammen, so fragte ich meine Zuhörer, wenn man von dem Gefühl der Liebe ausgeht? Wenige Tage nach diesem letzten Vortrag sperrte man mich ein und behandelte mich wie einen Gefangenen. Man wolle mich verhören, hieß es. Irgendwann kam jemand, rief meinen Namen und sagte: „Sind Sie Professor Humberto Maturana?“ Als ich das hörte, dachte ich mir, dass ich immer ein Professor bleiben würde, auch wenn diese Leute mich ermordeten. Der Status des Professors war das Schutzschild, das sie mir gewährt hatten. Dann brachte man mich in einen Raum, in dem drei Leute saßen. Ich setzte mich hin und stellte die Frage: „Inwiefern habe ich gegen die Grundsatzerklärung der Militärregierung verstoßen?“ Das heißt, ich war es, der das Verhör begann und der die Spielregeln veränderte; ich würde nicht sagen, dass ich diese Leute manipulierte, aber das Verhör nahm einen Verlauf, der es mir gestattete, meine Würde und Selbstachtung zu bewahren. Ich gebärdete mich weiterhin als ein Professor und versuchte die Vorwürfe, die man mir machte, zu entkräften. Und ich hielt diesen Leuten einen evolutionstheoretischen Vortrag und erklärte ihnen, warum sie den Kommunismus niemals vernichten würden, indem sie Kommunisten verfolgten. Man müsste – so sagte ich – die Bedingungen ändern, die den Kommunismus erst hervorbringen. Die drei Männer hörten mir mit wachsendem Erstaunen zu. Sie könnten mich, ließ ich sie wissen, jeder Zeit zu einem Vortrag einladen. Dann brachten sie mich zurück in die Universität.

Sie plädieren nicht für einen lebensgefährlichen Heroismus, Sie sprechen denjenigen, der sich unterwirft, nicht schuldig, sondern Sie plädieren für ein Maximum an Bewusstheit im Umgang mit der Macht.

Natürlich, ja. Es kann sehr dumm sein, sich nicht für eine gewisse Zeit zu unterwerfen und nicht ein bisschen abzuwarten, bis sich eine günstige Gelegenheit zur Gegenwehr ergibt. Mir geht es allein darum, sich verantwortlich zu bekennen und andere dazu einzuladen, bewusst zu handeln. Will man die Welt, die sich vor einem auftut, wenn man dem anderen Macht zugesteht? Möchte man vor allem überleben? Lehnt man die Welt, die im Zuge der Machtausübung entsteht, in einer unbedingten und kompromisslosen Weise ab?

Glauben Sie, dass dieser andere Bewusstseinszustand wirklich das Entscheidende ist? Man könnte doch einwenden, dass die unbedachte und die bewusste Unterwerfung jeweils dieselbe Konsequenz haben: Der Diktator bleibt an der Macht.

Dieser andere Bewusstseinszustand ist entscheidend, denn er ist es, der es gestattet, zu heucheln. Zu heucheln bedeutet, dass man ein Gefühl vortäuscht, das man nicht hat. Man bleibt immer auch noch ein Beobachter, der eine innere Distanz wahrt und eines Tages wieder auf andere Weise agiert. Das heißt: Die Wahrnehmungsfähigkeit des Heuchelnden wird nicht zerstört; seine Selbstachtung und Würde bleiben erhalten. Und ihm ist aufgrund dieser entscheidenden und sehr bedeutenden Erfahrungen ein anderes Leben möglich. Wenn man diese Haltung des bewussten Umgangs mit der Macht aufgibt, dann ist man verloren. Man hat sich für die Blindheit entschieden.

Wie kann man sich sicher sein, dass die Annahme, man selbst würde nur heucheln und beobachten, nicht eine raffinierte Form des Selbstbetrugs darstellt?

Nun, das erscheint mir als ein schwieriges Problem. Wirklich gefährlich wird es, wenn man behauptet, man selbst sei immun gegen die Versuchungen der Macht. Man ist dann blind für seine eigene Verführbarkeit, für den Genuss der Machtausübung, für die Freuden der unkontrollierten Ausübung von Kontrolle. Meine Auffassung ist, dass man niemals glauben sollte, man sei in moralischer oder irgendeiner anderen Hinsicht etwas Besonderes: Man ist dann auf die Situation, die einen vielleicht zu einem Folterer werden lässt, gedanklich nicht vorbereitet. Wer sich für immun hält, wird, so glaube ich, in einer bestimmten Situation am ehesten zum Folterer. Er ist sich seiner eigenen Verführbarkeit nicht bewusst. Was immer ein menschliches Wesen an Schrecklichem oder eben auch an Großartigem zu tun vermag – ein anderer, der man selbst sein könnte, kann dies auch. Eine solche Einsicht erlaubt es, das eigene Leben bewusst zu führen und sich zu entscheiden, ob man sich für die Demokratie oder die Diktatur engagiert.

Am Ende des Jahres 1973 – nach dem Militärputsch der Soldaten um Pinochet – flohen viele Mitglieder der Universität ins Ausland. Sie sind dagegen geblieben. Wieso?

Schon am Tag des Militärputsches rief ich meinen Freund Heinz von Foerster an und bat ihn, meiner Familie und mir beim Verlassen des Landes zu helfen. Er versuchte mir dann – was sich als ziemlich schwierig herausstellte –, die Einladung einer amerikanischen Universität zu verschaffen. Niemand wollte mich haben. Zehn Tage später war es Heinz von Foerster dann doch gelungen, einen Neurophysiologen in New York für meine Arbeit zu interessieren. Aber zu diesem Zeitpunkt war ich bereits entschlossen, in Chile zu bleiben. Mein Motive waren vielfältiger Natur. Mein erster Gedanke war: Wenn alle demokratisch gesinnten Menschen das Land verlassen würden, dann gäbe es bald keine Erinnerung mehr an eine demokratische Kultur und eine andere, eine bessere Zeit. So gesehen war jeder etwas ältere Mensch ein lebender Schatz. Dann beschäftigte mich das Schicksal der zahllosen Studenten, die mit einem Mal verlassen und entgeistert in der Universität herumirrten: Ihre Professoren waren geflohen oder hielten sich versteckt oder man hatte sie bereits gefangen genommen. Und schließlich wollte ich wissen, was es heißt, in einer Diktatur zu leben. Ich wollte die Deutschen und vor allem das Leben meines Freundes Heinz von Foerster verstehen, der die NS-Zeit Dank seines Verständnisses von Systemen überlebt hatte. Er hat einmal zu mir gesagt: Je ausdifferenzierter ein System ist, desto eher kann man es betrügen. Und lässt sich, so fragte ich mich, in einem solchen diktatorischen System beobachten, wie man allmählich blind wird? Welche Ursachen hat ein solcher Wahrnehmungsverlust? Kann man, wenn man gewarnt ist und um die Gefahren der ideologieverursachten Blindheit weiß, diese verhindern und seine eigene Seh- und Wahrnehmungsfähigkeit erhalten?

Sie wollten die Epistemologie der Ideologie verstehen.

So kann man das sagen, ja. Als zahllose Deutsche nach dem Krieg behaupteten, sie hätten von den Schrecknissen der NS-Zeit nichts gewusst, war ich überzeugt, dass nicht jeder lügt. Vielleicht waren manche auch einfach nicht in der Lage, die schreckliche Wahrheit zu ertragen. Und was war, wollte ich wissen, eigentlich in ihnen und ihrer Psyche vorgegangen? Wie lebt man, wenn man in einer Diktatur existiert, die es einem schwer macht, sich herauszuhalten? In welchem Ausmaß wird man selbst blind, auch wenn man dies entschieden nicht möchte? Wie und auf welche Weise wird Blindheit erzeugt?

Welche Beobachtungen haben Sie gemacht?

Niemand ist überall; und wenn man Ausgehsperren verhängt, dann nimmt man einem Menschen die Möglichkeit, bestimmte Dinge zu sehen. Er ist nicht dabei, wenn in der Nacht ein anderer in seiner Straße ermordet wird. Er sieht die Leiche nicht; alles geschieht hinter einem Vorhang. Und vielleicht wird er, wenn er am Morgen vor die Tür geht, den Gerüchten und Erzählungen keinen Glauben schenken. Man sieht ja nichts, nicht mal ein bisschen Blut. Und womöglich wird er sich sagen, dass auch Soldaten Menschen sind und dass kein Mensch sich auf eine so bestialische Weise benehmen kann. Seine humanistischen Vorannahmen sind es also, die ihn blind machen: Sie schützen ihn vor dem Schrecken, sie lassen ihm das Vertrauen in den anderen Menschen. Und schließlich hat die neue Situation in einer Diktatur auch für manche ganz konkrete Vorteile: Plötzlich sind bestimmte Jobs verfügbar, weil andere sie aufgegeben mussten und geflohen sind.

Erkennende Systeme – Menschen – lassen sich, so Ihre Annahme, nur begrenzt steuern; man kann sie nur irritieren, nicht aber kontrollieren. Meine These ist: Sie haben eine Erkenntnistheorie entwickelt, die der diktatorischen Machtausübung die konzeptionelle Basis entzieht.

Mit dieser These bin ich sehr einverstanden und füge hinzu, dass ich die gedanklichen Grundlagen der Diktatur zerstöre, weil es meine Arbeiten erlauben, das Wesen der Demokratie besser zu verstehen. Demokratie muss, so glaube ich, täglich neu als ein Raum des Zusammenlebens geschaffen werden, in dem Partizipation und Kooperation auf der Basis von Selbstachtung und Achtung vor dem anderen möglich sind. Das Erste, was eine Diktatur vernichtet, ist die Selbstachtung des Einzelnen, da sie, wenn man am Leben bleiben will, Unterwerfung und Gehorsam verlangt.

Könnte es sein, dass die Popularität, die Ihre Ideen heute besitzen, mit dem viel beschworenen Ende der Ideologien zu tun hat?

Dieser Zusammenhang besteht. Was ich geschrieben habe, gibt der Möglichkeit der Selbstachtung eine neue Basis, die in Diktaturen prinzipiell negiert wird. Was die Leser meinen Arbeiten zu entnehmen vermögen, ist, dass man an der Erzeugung der Welt, in der man lebt, unausweichlich seinen Anteil hat. Wir bringen die Welt hervor, die wir leben. Eine solche Sicht, zu der ich ohne jeden Zwang und irgendwelche Forderungen einlade, würdigt den Einzelnen. Und wer sich gewürdigt und respektiert fühlt, dem wird es möglich, sich selbst zu respektieren und zu achten. Er kann für das, was er tut, die Verantwortung übernehmen.

Das ungekürzte Gespräch ist nachzulesen im Buch des Autors „Abschied vom Absoluten. Gespräche zum Konstruktivismus mit Heinz von Foerster, Humberto Maturana, Francisco Varela, Paul Watzlawick u. a.“. Es erscheint in diesen Tagen im Carl-Auer-Systeme Verlag.

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