: Es war die Verheißung
Gerd Koenen war mehr als zehn Jahre einer der führenden Aktivisten beim Kommunistischen Bund Westdeutschlands. Zeit für eine Abrechnung, dachte er sich wohl, und geht über 500 Seiten mit dem „Roten Jahrzehnt“ 1967 bis 1977 hart ins Gericht. Das Produktive der Zeit hat er dabei leider vergessen
von CHRISTIAN SEMLER
Ist der Zeitzeuge der geborene Feind des Historikers? Unbedingt, auch und gerade wenn er als Historiker über eine Zeit schreibt, die er als Zeitgenosse mitgestaltet hat. Dann muss er sein Erkundungsschiff zwischen zwei dräuenden Felsklippen hindurchmanövrieren: der Scylla der Schön- und Weißfärberei der eigenen Rolle und der Charybdis der rrrückhaltlosen Abrechnung mit sich und der Zeit seines Engagements.
Gerd Koenen war einer der führenden Aktivisten des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands (KBW) und ist heute Russland- und Osteuropaexperte: Ist ihm in seinem den 70er-Jahren gewidmeten Buch „Das rote Jahrzehnt“ dieses Kunststück geglückt? Nur sehr bedingt. Sein Schiff ist bei der Zeitreise leck geschlagen, kann sich aber gerade noch in den sicheren Hafen der „anteilnehmenden Ironie“ retten. Koenens Buch gehört dem Genre der Abrechnungsliteratur an, mit allen ihren Stärken und Schwächen.
Zunächst Lob. Koenen hat sich nicht nur als Erster der durch keinen Honorarvorschuss aufzuwiegenden Mühe unterzogen, die Berge von Gedrucktem durchzuackern, die diese Druckerzeugnis-gläubigen 70er-Jahre hervorgebracht haben. Er hat nicht nur mit einer großen Zahl mehr oder weniger verstockter Zeitzeugen (darunter dem Verfasser dieser Zeilen) gesprochen. Er ist darüber hinaus der Frage „Warum bloß das alles?“ keineswegs ausgewichen, hat die bekannten Theorien Revue passieren lassen und sich selbst um plausible Erklärungen bemüht. Herausgekommen ist ein brillant geschriebenes Buch voller Zeitkolorit, anekdotenreich und keineswegs gedankenarm. Eine lohnende Lektüre für alle, deren historisches Interesse durch die idiotische Kampagne gegen Joschka Fischer geweckt, aber bislang nicht befriedigt wurde.
Der Autor spannt den Zeitbogen von den frühen 60er-Jahren bis in unsere Tage. Dadurch vermeidet er den Lieblingsfehler aller Chronisten, der lichten Bewegung der 68er die Finsternis der 70er-Jahre gegenüberzustellen. Feministinnen, Spontis, K-Gruppen, Trotzkisten, viele Moskowiter der DKP, nicht zuletzt die RAF, alle haben sie ihre Ursprünge in der Revolte der 60er-Jahre – im Positiven wie im Negativen. Koenen gelingt es ausgezeichnet, die Doppelnatur der 68er aufzuspüren. Einerseits Kommunikationsavantgarde, auf den jüngsten Errungenschaften der Mediengesellschaft reitend, Virtuosen im Kampf um die knappe Ressource Aufmerksamkeit. Andererseits festgezurrt von der Angst, in einer eindimensionalen Gesellschaft wie unter einer riesigen Käseglocke zu verkümmern und der allgegenwärtigen Manipulation zum Opfer zu fallen. Koenen dechiffriert die extreme Politisierung einer Generation wie auch den ubiquitären Faschismusverdacht gegenüber den Eltern als Instrument der Selbstbehauptung. Schließlich interpretiert er den Schritt ins Universelle, in die weltrevolutionären Hoffnungen, als gewollte Distanz von der Last der deutschen Geschichte.
Gerade was letztere Haltung angeht, meint Koenen, die Vorstellung eines weltrevolutionären Prozesses, der sich hier und jetzt abspielt, sei bloße Halluzination gewesen. 1968 war ihm nicht die Zeit des erfüllten historischen Augenblicks, des Kairos. Alles nur Einbildung, als solche freilich wirksam. Nur: Ab hier betritt der Autor abschüssiges Gelände. Natürlich war nirgendwo, erst recht nicht gleichzeitig, die Weltrevolution angesagt. Aber es lässt sich schlecht leugnen: Die internationale Solidarität mit dem vietnamesischen Volk etwa half nicht nur der Nationalen Befreiungsfront und den Nordvietnamesen, sondern wirkte auch katalysatorisch für den revolutionären Willen in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Hierbei erwies sich der Gedanke der Antizipation, der Vorwegnahme des revolutionären Ziels im Befreiungskampf, als eine überaus anziehende Idee. Befreiung und Selbstbefreiung in der revolutionären Aktion – darum ging es. Und deswegen existierte ein Band zwischen der Befreiung der Zitadelle von Hue, während der Tet-Offensive 1968, und dem Sturm auf die Amerika-Häuser.
Während Koenen über den „Wahn“ der damaligen Linksradikalen nachsinnt, vergisst er zu erwähnen, wie es in der Welt damals aussah (und heute größtenteils noch aussieht). Zu Recht geißelt er den Gewaltfetischismus, dem damals so viele Linke anhingen. Aber anlässlich seiner Erörterungen zum bedenkenlosen Gebrauch der Gewalt während und nach der Springerkampagne suggeriert er dem Leser eine quasi existenzialistische Gewaltfeier, die es so einfach nicht gegeben hat. Aus dem Zusammenhang der Osterunruhen 1968 eliminiert er alles, was sich „auf der Gegenseite“ abspielte. Er nimmt die Überlegungen der damaligen Zeit auf Seiten der Revolutionäre nicht zur Kenntnis, nicht die Arbeiten der westberliner Kritischen Universität, nicht die Ansätze von Gegenöffentlichkeit. Mit einem Wort: nicht das Produktive.
Warum ist Gerd Koenen eigentlich zum Maoisten geworden? Wir erfahren es nicht. Was hat er damals aus Maos Schriften gelernt, war er fasziniert vom Denken in Widersprüchen, von dem reichen intellektuellen Hintergrund? Schreckte ihn die große Vision und der menschenverachtende Zynismus, der sie begleitete, ab oder verfiel er ihr? Wie gerne hätte ich darüber gelesen! Wir erfahren nichts über unsere utopischen Leidenschaften, den ebenso brennenden wie vergeblichen Wunsch, die Arbeitsteilungen des Kapitalismus rückgängig machen zu wollen, die bürgerlichen Privilegien abzuwerfen, „dem Volk zu dienen“. Es war gerade letztere Parole, die tausende linker Aktivisten zum Eintritt in die K-Gruppen motivierte. Die Adaption der Kulturrevolution durch die westliche radikale Linke sieht Koenen als ideologische Aufladung der Jugendrevolte. Für mich, dem 1966 27-Jährigen, und für meine Freunde bedeutete sie etwas ganz anderes: nämlich den geglückten Versuch, sich im Sozialismus durch die Revolution einen degenerierten Parteiapparat vom Hals zu schaffen, ohne dass dabei der Sozialismus den Bach runter ging. Diese Kulturrevolution war für uns das Eingangstor zum Kommunismus. Es war die Verheißung. Überflüssig zu sagen, dass hier an einer Wunschlandschaft gemalt wurde. Aber es sind eben Wünsche, die Leidenschaften hervorbringen.
Was Koenen über das Innenleben der K-Gruppen im Allgemeinen und seiner eigenen Gruppe, dem KBW, im Besonderen zu sagen hat, ist ebenso zutreffend wie erschreckend. Es ist aber nur die eine Hälfte der Wahrheit. Außer dass sie Fahnen schwenkten, Bibelstunden abhielten und sich gegenseitig ausschlossen, hatten die Maoisten, ungaublich aber wahr, auch noch ein paar Kontakte zur Wirklichkeit. Koenens eigene Truppe war eine starke Kraft im Kampf zur Abschaffung des Paragrafen 218, die KBWler mischten mit im viel geschmähten „Reproduktionssektor“ („Häuserkampf“, Fahrpreise, Gesundheitswesen); sie leisteten, wenngleich unter hirnrissigen politischen Annahmen, nützliche, weil oft gegen die Unterdrückung gerichtete Arbeit in den verschiedenen Sektoren des Staatsapparats. Sie traten, wie die übrigen K-Gruppen auch, für die Rechte der Immigranten und für die Aktionseinheit deutscher und ausländischer Arbeiter ein. Wenn es diese, von Misserfolgen begleitete, oft als rechtsopportunistisch verschrieene tägliche Plackerei nicht gegeben hätte, wer wäre dann wohl länger als drei Monate bei einem dieser maoistischen Vereine geblieben?
Gerd Koenen hatte spezielles Pech mit dem KBW. Als die anderen maoistischen Organisationen, von ihrer Erfolglosigkeit erdrückt und schon im Bann der so ganz anders gestrickten ökologischen Bewegung, über das Ende nachzugrübeln begannen, erreichte der KBW erst seine volle dogmatische Blüte. Meine Organisation, die KPD/AO, später KPD, hat sich im Februar 1980 unter halbwegs menschlichen Umständen aufgelöst. Da standen dem KBW noch ein paar Jährchen bevor. Verständlich, dass Gerd Koenen, der 1980 austrat, sich noch einmal und mit Bitterkeit dieser Fieberphase zuwendet. Doch: zu viel der Ehre, zu viel der Abrechnung.
Gerd Koenen: „Das Rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–77“, 554 Seiten, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001, 49,90 DM
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