: Die Zukunft liegt in Stettin
Polnisch, das kann man vielleicht brauchen, meinen die deutschen Schüler am deutsch-polnischen Gymnasium in Löcknitz
aus Löcknitz und Stettin UWE RADA
Gleich neben dem Eingang zum deutsch-polnischen Gymnasium ist eine Gedenktafel eingemauert. Sie erinnert an die Fünfzigerjahre, in der die Löcknitzer Schule erbaut wurde, im Geiste der Völkerverständigung zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen. Seitdem ist die Geschichte der Schule mit der nur zehn Kilometer entfernten Grenze verknüpft. Nach der Öffnung der Schlagbäume in den Siebzigerjahren wurden erste Kontakte zu einer polnischen Schule in Police geknüpft. Später dann, die Grenze war wegen der Solidarność-Bewegung geschlossen worden, wurde die Tafel übermalt. Heute ist die Grenze wieder offen, und die Tafel glänzt.
Micha spricht Polnisch. Oder lernt es, wie er sagt, denn Polnisch ist schwer, genauso schwer wie Deutsch für die Polen. Vor vier Jahren hat er sich für die Sprache des östlichen Nachbarn und gegen Französisch als zweite Fremdsprache entschieden. „Vielleicht kann man das mal brauchen“, sagt der 17-jährige und fängt an, auf den Unterricht zu schimpfen. „Viel zu wenig Wirtschaftssprache, viel zu viel Drogen und so.“ Gosia und Alicja dagegen haben für Kritik keine Zeit. Neben dem Unterricht in deutscher Sprache haben sie wöchentlich noch 12 Stunden in polnischer Literatur, Geschichte und Sozialkunde. „Doch das lohnt sich“, sagt Alicja, „weil unser Abitur dann nicht nur in Deutschland, sondern auch in Polen gilt.“
Gerhard Scherer, der Schulleiter, war vor kurzem im Saarland, gemeinsam mit dem Landrat des Kreises Uecker-Randow, dem Träger der Schule. Wenn der eher hemdsärmlige Scherer vom deutsch-französischen Grenzgebiet spricht, gerät er fast ein wenig ins Schwärmen, erzählt vom bilingualen Alltag, obwohl auch dort, wie er betont, zweisprachig nur im Musikunterricht gesprochen wird. An Projektideen mangelt es Scherer nicht. Als erste Schule im deutsch-polnischen Grenzgebiet wollte seine schon im kommenden Schuljahr Polnisch als erste Fremdsprache anbieten. „Das Problem ist nur, dass es dafür noch immer keine geeigneten Lehrbücher gibt. Welcher Verlag druckt schon Bücher für die 1.500 Schüler, die an der Oder und Neiße Polnisch lernen?“
Bis dahin gibt es in Löcknitz also nur Polnisch als zweite Fremdsprache. Das allerdings mit Erfolg. Von den Schülern der sechsten Klassen entscheidet sich in der Regel die Hälfte für Polnisch. In allen Klassen werden die etwa 400 deutschen und 100 polnischen Schüler gemeinsam unterrichtet. Auch wenn für Gosia, Alicja und ihre Mitschüler wenig Zeit für Freundschaften mit den Deutschen bleibt, weil sie jeden Abend wieder zurück ins polnische Police müssen, gibt es auch Ausnahmen. Eine Schülerin, auch sie heißt Alicja, erzählt, dass die manchmal bei einer Freundin übernachtet. „Und manchmal übernachtet sie auch bei uns.“
Anders als im Saarland oder in Baden-Württemberg sind grenzüberschreitende Schulprojekte in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen noch immer eine Ausnahme. Die globalisierte Wirtschaft spricht schließlich Englisch und nicht Polnisch. Doch von der globalisierten Wirtschaft ist der Uecker-Randow-Kreis im östlichsten Zipfel von Mecklenburg-Vorpommern so weit entfernt wie die umliegenden Dörfer von den nächsten deutschen Städten, von Pasewalk, Torgelow und Eggesin. 25 Prozent Arbeitslosigkeit gibt es in der Region. „Aus dem Westen hilft uns hier keiner“, sagt Gerhard Scherer. Auch deshalb hat sich der Schulleiter des deutsch-polnischen Gymnasiums für das Naheliegende entschlossen. „Polen“, sagt er „ist unsere Zukunft“. Und Polen, das ist im Uecker-Randow-Kreis Stettin.
Was die 3.500-Seelen-Gemeinde Löcknitz schon heute mit dem 420.000 Einwohner zählenden Szczecin verbindet, ist die Euroregion Pomerania. Von den vier Euroregionen an der deutsch-polnischen Grenze ist Pomerania nicht nur die nördlichste, sondern auch die einzige mit einer Großstadt auf polnischer Seite. Im künftigen Europa der Regionen wird Stettin mit seiner Werft, dem Hafen und der chemischen Industrie zum Zentrum. Gerhard Scherer sagt: „So wie viele Polen heute noch in Deutschland Arbeit suchen, werden wir eines Tages in Stettin um Arbeit betteln.“
Zur gleichen Zeit, in der Gosia, Alicja und die andern 90 polnischen Schüler vom Schulbus aus Police frühmorgens am Grenzübergang Linken abgesetzt werden, wartet auf der anderen Seite der Grenze Elke Petrow auf die Abfertigung durch den Bundesgrenzschutz. Petrow ist eine der wenigen deutschen Pendlerinnen im Grenzgebiet. Ihr Arbeitgeber ist die Industrie- und Handelskammer (IHK) zu Neubrandenburg. Ihr Arbeitsplatz dagegen befindet sich in Szczecin, in einer wunderschönen Gründerzeitvilla. Zusammen mit ihrer polnischen Kollegin Irena Strożynska berät Elke Petrow im Dom Gospodarki, dem Haus der Wirtschaft, deutsche und polnische Unternehmer. Vor allem kleine und mittlere Firmen sind es, die schon heute, vor dem EU-Beitritt Polens, nach Kooperationspartnern suchen. „Und viele von ihnen sprechen schon heute ein paar Brocken Polnisch.“ Petrow hat in der DDR Russisch und Bulgarisch an der Hochschule unterrichtet. Kaum hatte sie angefangen, Polnisch zu lernen, bekam sie den Job in Stettin. Die IHK in Neubrandenburg hat die Zeichen der Zeit erkannt. „Polnischkurse für Mitarbeiter sind dort nicht nur erwünscht, sondern werden von der Handelskammer auch finanziert“, freut sich Elke Petrow.
Kazimierz Wóycicki spricht Deutsch. Den Optimismus vieler seiner polnischen Landsleute kann er allerdings nicht teilen. „Mit der Öffnung der Grenze kam zwar der Aufschwung, vor allem für die Werft, aber auch für die Stettiner Unternehmer“, sagt Wójcicki. „Doch seit Mitte der 90er-Jahre geht es wieder abwärts. Die Arbeitslosigkeit ist auf 16 Prozent gestiegen, die sozialen Probleme werden größer.“ Stettin, in sozialistischen Zeiten von der Warschauer Zentralregierung ins Abseits gestellt, droht auch heute wieder ein Schicksal im Schatten von Breslau oder Warschau.
Kazimierz Wójcicki beklagt vor allem den Mangel an politischen Konzepten. „Warum wurde in Stettin keine deutsch-polnische Universität aufgebaut wie in Frankfurt (Oder)? Warum wurde die Infrastruktur nicht verbessert? Warum nehmen die Stettiner die Hoffnungen der deutschen Seite nicht auf?“ Fragen, auf die der Leiter des Instituts für Deutschland und Nordeuropa zugleich die Antwort gibt. „Trotz polnischer Verwaltungsreform ist der Zentralismus noch immer ein Problem. Das führt dann dazu, dass bei Verhandlungen mit Mecklenburg-Vorpommern nicht die Woiwodschaft Westpommern zuständig ist, sondern die Regierung in Warschau. Die wiederum akzeptiert nur die Bundesregierung als Gesprächspartner. Hinzu kommt, dass die Euroregion Pomerania auf beiden Seiten nicht als Chance begriffen wird, die man mit eigenen Initiativen füllen muss, „sondern nur als Geldtopf, bei dem man Projektanträge einreichen kann.“
Gerade die Beziehungen in der Grenzregion sind ausschlaggebend für das deutsch-polnische Verhältnis, meint Wójcicki. Und für diese Regionen müsste mehr getan werden, denn auf beiden Seiten der Grenze gehören sie zu den strukturschwachen. „Wird das weiter vernachlässigt, so werden die sozialen Probleme bald zu mehr Nationalismus führen.“ Wirklich freundschaftliche Beziehungen pflegten nämlich nur wenige. „Viele reden immer noch von den arroganten Deutschen oder der polnischen Wirtschaft.“
In Löcknitz ist die Schule zu Ende. Einige Schüler stehen vor einem Getränkemarkt im Ortskern, hinter ihnen wirbt eine nicht gerade einladende Gaststätte mit dem Namen „Zum Grenzgänger“ um jene Löcknitzer, die schon nachmittags ihr Bier trinken. „Ausländerfeindlichkeit“, sagt Alicja „habe ich in Löcknitz eigentlich noch nicht erlebt, zumindest nicht offen.“ Auch Gerhard Scherer meint, dass sich die Löcknitzer inzwischen daran gewöhnt haben, dass die polnischen Schüler bei ihnen einkaufen. Und auch Schulleiter Scherer weiß, dass es gar nicht ohne Neid zugehen kann, wenn deutsche Schüler aus sozial schwierigen Verhältnissen auf polnische Schüler treffen, deren Eltern bildungsorientiert und optimistisch sind. „Aber wir haben keine andere Chance. Die Mobilen ziehen heute schon weg. Von den wenigen engagierten Familien, die noch hier sind, arbeiten die meisten beim Bundesgrenzschutz oder beim Zoll.“
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