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Das zweite Rom

Das Kanzleramt wird gerade bezogen, schon ist die Metropole pleite: So ging es auch den Italienern mit ihrer neuen Hauptstadt – vor 130 Jahren

von RALPH BOLLMANN

Gerade erst war die Stadt zum Regierungssitz des frisch vereinten Landes geworden – und schon zerstoben alle Blütenträume. Der Bauboom, der sich mit dem Umzug von Parlament und Ministerien verbunden hatte, brach jäh zusammen. Bank- und Immobiliengesellschaften standen vor der Pleite. Die öffentliche Hand bekam die Folgen zu spüren: Die Kommune war, wie ein Historiker schreibt, „am Rande des Bankrotts und sah sich ihrer finanziellen Handlungsfähigkeit weitgehend beraubt“. Erst eine Stadtregierung unter sozialistischer Beteiligung, der „Volksblock“, konnte Jahre später die Krise überwinden. Unter der Führung eines prominenten Bürgermeisters traf sie weitsichtige Entscheidungen, die das Bild der Metropole bis heute prägen.

Eine Beschreibung der aktuellen Berliner Misere? Weit gefehlt! Was die deutsche Hauptstadt derzeit durchmacht, erlebte Rom schon vor mehr als hundert Jahren – nachdem die Residenz der Päpste 1870 aus ihrem politischen Dörnröschenschlaf gerissen und zur Hauptstadt des neuen italienischen Nationalstaats befördert worden war.

Geschichte wiederholt sich nicht. Aber der Prozess der Hauptstadtwerdung Berlins, der mit der Fertigstellung des Kanzleramts in diesen Tagen wieder in den Blickpunkt rückt, ist historisch keineswegs so beispiellos, wie die meisten Beobachter in Deutschland glauben. Auch die Italiener hatten mit dem Regierungsumzug von Turin über Florenz nach Rom einem historischen Mythos den Vorzug vor praktischen Erwägungen gegeben – einem Mythos, der für die innere Einheit des frisch vereinten Landes allerdings unverzichtbar war.

Anderthalb Jahrtausende waren 1870 vergangen, seit von Rom aus das „Imperium Romanum“ regiert worden war; ein halbes Jahrhundert lag 1991 zurück, seit Berlin als Hauptstadt eines kurzlebigen „Deutschen Reiches“ ausgedient hatte. Beide Städte lagen und liegen fernab von den Industrie-, Handels- und Finanzzentren in Norditalien oder Westdeutschland. Der öffentliche Dienst war im damaligen Rom wie im heutigen Berlin der wichtigste Wirtschaftszweig, gefolgt vom Tourismus. Die italienische Hauptstadt wurde ihren Ruf als parasitäre Metropole nicht mehr los, auf dem die Separatisten im Norden des Landes heute ihr Süppchen kochen.

Beide Hauptstädte wurden auf den Ruinen einer weltumspannenden Ideologie errichtet. Am 20. September 1870 hatten die Truppen des jungen Nationalstaats an der Porta Pia eine Bresche in die antike Stadtmauer geschlagen, um die weltliche Herrschaft der Päpste zu beenden. Vielen italienischen Liberalen galt es nur noch als eine Frage der Zeit, bis der Fortschritt und die moderne Wissenschaft über die finsteren Mächte der Kirche triumphieren und dem Katholizismus als Weltinstitution den Garaus machen würden.

Ironischerweise war es auch in Berlin die Überwindung einer Mauer, die den Untergang der kommunistischen Ideologie besiegelte. Und wie in Rom der Katholizismus nicht totzukriegen war, ist auch in Berlin die untergegangene DDR an jeder Ecke lebendig. Nur dass der Palast der Republik in seiner architektonischen Qualität deutlich hinter dem Petersdom zurückbleibt, wie auch notorische Ostalgiker konzedieren müssen. Ein weiterer Unterschied: Die PDS feierte viel schneller Wahlerfolge als der politische Katholizismus in Italien, der sich weitaus langsamer vom Schock der „Porta Pia“ erholte. Das lag allerdings auch am eingeschränkten Wahlrecht, das den liberalen Eliten die katholischen Massen vom Leibe hielt.

Natürlich versuchte der jeweils neue Staat, sich städtebaulich vom überwundenen System abzugrenzen. Die Römer schlugen nach dem Vorbild des französischen Barons Haussmann breite Schneisen durch die historische Stadt. Statt auf die verhassten Kirchenkuppeln lenkten die neuen Sichtachsen den Blick auf die Monumente der römischen Antike, auf die man sich so gern berief. Dass der Radikalkur fast die Hälfte der historischen Bausubstanz zum Opfer fiel, störte die aus Turin zugezogenen Beamten kaum. Mit den modernen Vorstellungen von humanem Wohnen schien die Enge des historischen Zentrums damals so unvereinbar wie heute die Monotonie der Plattenbauten.

Was den Römern die Antike war, ist den Berlinern das gründerzeitliche Straßenraster – das Modell, mit dem die neue Kapitale die Stadtplanung des überwundenen Systems ungeschehen machen will. Doch der Fernsehturm lässt sich nicht so leicht verstecken wie der Petersdom. Wohlweislich hatten die DDR-Planer den Prestigebau in den Schnittpunkt aller großen Ausfallstraßen gestellt.

Welch ein Glück, dass Rom und Berlin aus der langen Zeit ihres Niedergangs über genügend innerstädtisches Brachland verfügten, das die neuen Regierungsgebäude aufnehmen konnte. Zunächst war daran gedacht, für sämtliche Ministerien großzügig dimensionierte Neubauten aus dem Boden zu stampfen: In Berlin westlich des historischen Zentrums um die Straße des 17. Juni, in Rom nordöstlich der Altstadt um die Straße des 20. September. Das eine Datum erinnerte an den Aufstand gegen die Kommunisten, das andere an den Sieg über die Katholiken.

Leider mussten die deutschen wie die italienischen Bauherren feststellen, dass die Herstellung der Einheit kostspieliger war als gedacht. Während also die Milliarden in Sachsen oder Sizilien versickerten, wurden die Neubaupläne kräftig abgespeckt. Den einzigen wirklich pompösen Neubau genehmigten sich die Sparkommissare in den 1870er-Jahren selbst: Im neuen Finanzministerium neben den Diokletiansthermen fanden 2.500 Beamte Platz, die Hälfte des gesamten Regierungsapparats.

Für die Abgeordnetenkammer wurde mit dem Palazzo Montecitorio hingegen ein Gebäude der alten päpstlichen Verwaltung adaptiert, und in Berlin zog Sparminister Hans Eichel in einen Nazibau, der schon zu DDR-Zeiten als „Haus der Ministerien“ diente.

Auch an die Verkehrsverbindungen hatten die Planer gedacht. Für die Städte, die von den Verkehrsströmen des modernen Europa lange Zeit abgeschnitten waren, mussten neue Zentralbahnhöfe her. Und natürlich liegt der Lehrter Bahnhof wie die Stazione Termini in Laufnähe zum neuen Regierungsviertel.

Selbst diese schnelle Fluchtmöglichkeit konnte die nörgelnden Beamten aus Bonn oder Turin nicht wirklich mit der neuen Hauptstadt aussöhnen. „Der König und die stark piemontesisch geprägte Führungselite siedelten nur höchst ungern nach Rom über“, schreibt Jens Petersen, der beste Italienkenner unter den deutschen Historikern. „Altrömer und Neuankömmlinge blieben nach Mentalität und Lebensgewohnheiten noch jahrzehntelang deutlich geschieden.“ Nicht anders geht es der „neuen Mitte“ mit den Schultheiss-Berlinern.

Dennoch waren die Berlingegner und Romskeptiker in den leidenschaftlich geführten Debatten um den künftigen Regierungssitz letztlich chancenlos geblieben. In beiden Fällen bot die Stadt nicht nur einen historischen Bezugspunkt, sie lag auch geografisch genau auf der Grenze zwischen den disparaten Teilen des Landes. Keine andere Stadt als Rom konnte in einem historisch so zerrissenen Land den neuen Nationalstaat repräsentieren, und auch in Deutschland ist Berlin zehn Jahre nach der staatlichen Einheit noch immer das einzige wirkliche Bindeglied zwischen Ost und West.

Dem setzten die Hauptstadtgegner historische Argumente von zweifelhaftem Wert entgegen: Müssen von einer Stadt, in der Caesar oder Wilhelm II. ihre Feldzugspläne schmiedeten, nicht neue Expansionsgelüste ausgehen? Kann eine freie Regierung an einem Ort gedeihen, an dem Nero oder Hitler wütete? Kein Geringerer als der Historiker und später Nobelpreisträger Theodor Mommsen argwöhnte: „Aber was wollt Ihr in Rom? Das beunruhigt uns alle. In Rom kann man nicht ohne kosmopolitische Pläne sein.“

Tatsächlich verschoben sich nach den Umzügen die außenpolitischen Gewichte – aber das hatte weniger mit der Stadt zu tun als mit der Vereinigung an sich. Der Tripolis-Feldzug wäre wohl auch von Turin aus geführt worden, und am Kosovokrieg hätte sich auch eine gesamtdeutsche Regierung in Bonn beteiligt.

Die innenpolitischen Bedenken erwiesen sich erst recht als irrig. Weder Rom noch Berlin entwickelte sich zu einem Wasserkopf nach Pariser Muster. Mailand und Frankfurt behaupteten ihren Rang als Finanzzentren, Florenz und München blieben wichtige Kulturmetropolen, in Turin oder Stuttgart florierte weiterhin die Industrie. In diesen Städten hat es nie jemand bedauert, dass die Träume vom grenzenlosen Hauptstadtwachstum zerplatzt sind.

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