: Bruchstück, verworrene Botschaft
Eine Ausstellung im Fotomuseum Winterthur sichtet Fotografien aus deutschen Konzentrationslagern und ergänzt den Fundus um notwendiges Hintergrundwissen, das bislang fehlte. Die Akribie ist nicht abgeklärt, sondern wissenschaftlich notwendig
von ANDREAS LANGEN
An der Rampe von Auschwitz wurden nicht nur Menschen selektiert, sondern auch Gegenstände. Fotografien, die die Deportierten bei sich trugen, wurden fast ausnahmslos vernichtet. Jolana Roth, die in der Baracke arbeiten musste, wo der Besitz der zur Vergasung bestimmten Menschen sortiert wurde, realisierte den Tod ihres Vaters, als sie inmitten der Flammen ein Bild von sich entdeckte: „Ich sah ein Foto, das mich im Gymnasium zeigte. Mein Vater hatte dieses Bild immer bei sich getragen; er war sehr stolz darauf und hätte es niemals hergegeben. Ich habe versucht, es zu retten, aber wir konnten nichts retten. Es ist verschwunden, mitsamt dem Rest.“
Nur ein einziger Koffer mit Bildern der in Auschwitz Ermordeten hat das Inferno überstanden. Eine Hand voll dieser zufällig geretteten Fotos eröffnet nun eine Ausstellung über das „Bildgedächtnis der Nazi-Konzentrations- und Vernichtungslager 1933 – 1999“ im Fotomuseum Winterthur. Ungewöhnlich an diesem Projekt ist nicht nur der Zeitraum, über den es sich erstreckt; auf den ersten Blick verblüffend ist auch, dass unter den Kuratoren und Bildautoren fast keine Deutschen sind und dass die bisher feststehenden Stationen der Ausstellung in Frankreich, Schweiz, Italien und Spanien liegen, während sich bislang mit keiner deutschen Institution konkrete Kontakte für eine Übernahme entwickelt haben. Vom Nachfolgestaat des Hitlerreiches aus betrachtet, liegt die Vermutung nahe, das heikle Thema könne ohne deutsche Beteiligung unvoreingenommener bearbeitet werden.
Doch das ist Spekulation. Was hier wie gezeigt wird, hat rein gar nichts mit der nationalen Herkunft der Ausstellungsmacher zu tun, viel jedoch mit deren Berufsauffassung. Und da die Kuratoren Clément Cheroux und Pierre Bonhomme Fachleute für Fotografie und Historie sind, gehen sie mit Lichtbildern so um wie mit jeder anderen historischen Quelle auch – kritisch distanziert und mit dem Anspruch größtmöglicher Exaktheit.
Fotografie als Quelle
Solche Abgeklärtheit fällt schwer, wenn es um Mord und Totschlag geht. Ein einziges Beispiel zeigt jedoch, wie schnell falsche Vorstellungen entstehen, bei denen sogar Täter und Befreier verwechselt werden können: Die vielfach publizierten Sequenzen von Bulldozern, die Leichenberge in Massengräber schieben, zeigen nicht etwa monströs gefühllose Nazis, sondern britische Soldaten bei der Seuchenbekämpfung in Bergen-Belsen. Ein unüberschaubares Durcheinander vermuten die Kuratoren nicht nur in vielen Köpfen, sie fanden es zu Beginn ihrer Recherchen vor vier Jahren auch in vielen Archiven. Propaganda der Nazis vermengt mit Bildern von der Befreiung, daneben zeitgenössische Fotos der Lager, die heute Museen sind, und all das meist ohne Bildlegenden. Den Grund für diesen Wirrwarr sieht der Kurator Clément Cheroux hauptsächlich in der Verwendung der Fotos: „Nach 1945 waren diese Bilder wesentlicher Teil einer regelrechten Kampagne des pädagogischen Schreckens. Es ging darum, Verbrecher mittels der Bilder ihrer Verbrechen zu benennen, und das war berechtigt.“ Die Fotos wurden von militärischen, staatlichen, politischen und medialen Institutionen massenhaft reproduziert und in Umlauf gebracht; zwangsläufig ging dabei fast jeder Kontext verloren. Wer welches Bild wo und mit welcher Absicht gemacht hatte, spielte meist keine Rolle. Übrig bleiben symbolische Ikonen des Grauens, visuelle Schockinstrumente – „Bilder ohne Substanz“, so die amerikanische Historikerin Barbie Zelizier. Jorge Semprun geht noch weiter: „Es sind stumme Bilder“, schrieb er, „weil sie nichts Genaues über die dargestellte Wirklichkeit aussagen, nur Bruchstücke zeigen, nur verworrene Botschaften mitteilen.“ Wer das für penible Krittelei hält, sollte sich an die so genannte Wehrmachtsausstellung erinnern – ein winziger Anteil ungenauer Bildbeschreibungen reichte, um aberhunderte unstrittiger Dokumente als tendenziös zu verurteilen und das gesamte Material zeitweise aus der Öffentlichkeit verschwinden zu lassen. Dagegen haben die französischen Kuratoren ihr Material, so weit möglich, bis zum Negativ oder Erstabzug zurückverfolgt.
Dabei kam vieles zutage, was über die bekannten Bildchiffren vom gepeinigten Häftling im gestreiften Drillich hinausgeht. Schon 1933 entstand zum Beispiel eines der wenigen, vielleicht das einzige zeitgenössische Künstlerfoto zum Thema, ein visionäres Selbstporträt von Erwin Blumenfeld. Der Dadaist verfremdet sich mit fotochemischen Eingriffen zum Schmerzensmann, auf der Stirn ein triefendes Hakenkreuz, und signiert sarkastisch: „Mit den herzlichsten Grüßen in Gedanken ans Konzentrationslager“. Nicht mehr in der Lage zu solcher Distanz sind die Häftlinge selbst, die unter Todesgefahr illegale Fotos des Lageralltags anfertigen. Diese hochseltenen Dokumente werden in der Ausstellung als Projektion gezeigt, daneben leuchten Bilder auf, die Nazis selbst von ihren Lagern aufgenommen haben. Diese Konfrontation von Täter- und Opferblick zählt zu den bewegendsten Passagen der Ausstellung, und die Projektion – eigentlich ein konservatorisches Zugeständnis an wertvolle Originale – erweist sich als zusätzliche Stärke. Hier die mächtige Überzahl der selbstsicheren Herrenmenschen, etwa Treblinka-Kommandant Kurt Franz in blütenweißer Uniformjacke vor einer KZ-Baracke, handschriftlich betitelt mit „Schöne Zeiten“, dort die wenigen verwackelten Schnappschüsse von Rauchschwaden bei der Verbrennung Ermordeter oder die heimlichen Blicke auf Opfer grausamer medizinischer Experimente. Bei denselben Versuchen zeigen sich Nazi-Ärzte auf ihren eigenen Fotodokumentationen mit einer Entspanntheit, die ins Mark geht: Der Nächste bitte ...
Instrument Fotografie
So unvorstellbar sind die Zeugnisse der KZ-Verbrechen, dass die ersten Veröffentlichungen gegen Kriegsende auf völligen Unglauben stießen. In Großbritannien stellte man die Publikation von KZ-Fotos wieder ein, weil allzu viele Betrachter sie für Propaganda der Alliierten hielten. Von Auschwitz drang praktisch gar nichts durch die russische Militärzensur, und in Frankreich wurde monatelang kaum über die Lager berichtet, auch um die eigenen Landsleute nicht zu gefährden, die noch in den Händen der Nazis waren. Erst am 6. April 1945, als Amerikaner und Franzosen das von der SS barbarisch liquidierte Buchenwald-Außenlager Ohrdruff entdecken, beschließen die Alliierten, die Welt über das Terrorsystem der Nazilager aufzuklären. Eines der wichtigsten Instrumente dazu sind bis heute Fotografien.
In der Winterthurer Ausstellung erreicht diese Information ein wissenschaftliches Maß an Genauigkeit. Alle Bilder sind mit Legenden versehen, und der umfangreiche Katalog (leider nur auf Französisch) erschließt weitere Ebenen. Diese sind besonders hilfreich, um die zeitgenössischen Fotoarbeiten zu verstehen, die notwendigerweise immer abstrakter werden. Die Nachbarschaft von moderner Fotokunst und historischen Dokumenten eines unbeschreiblichen Verbrechens mag verstören – was hat schon künstlerische Ästhetisierung neben der Gewichtigkeit des realen Schreckens verloren? Doch diese Abwägung, so meint Clément Cheroux, übersieht eine unausweichliche Tatsache: „Wenn ein Ereignis so weit in die Vergangenheit rückt, dass die Augenzeugen aussterben, dann werden kulturelle Artefakte neben der unmittelbaren Erfahrung immer mehr zum Träger von Erinnerung.“ Und er berichtet von einem Überlebenden des Holocaust, der ihm in Paris sagte, wie froh er über den Anteil der modernen Kunst in der Ausstellung war – als Zeichen dafür, dass auch die Nachgeborenen sich weiterhin Fragen stellen und die Erinnerung lebendig bleibt.
Fotomuseum Winterthur, bis 3. 6.Katalog „Mémoires des Camps“, 247 S., 59 Fr., bei Marval erschienen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen