: Die letzten Getreuen des Meisters
Die 30.000 Menschen, die auf den Platz strömen, beten für Abdurrahman Wahid. Ob sie friedlich bleiben, wie ihr Führer es wünscht, ist ungewiss
aus Jakarta JUTTA LIETSCH
„Allah, führe uns in deiner großen Weisheit durch diese schweren Zeiten“, schallt die Stimme des Vorbeters aus den Lautsprechern über den riesigen Parkplatz am Senayan-Stadion von Jakarta, „hilf uns, o Herr, denn es ist alles durcheinander geraten: Was gerade war, ist schief geworden, und was richtig ist, wird falsch.“
Als mächtige Symbole aus der Suharto-Diktatur überragen Bürotürme aus Beton und Glas, die Citibank und das Hilton-Hotel den Platz, auf dem sich die 30.000 Gläubigen seit dem frühen Sonntagmorgen zum „Gebet für den Frieden“ versammeln. Viele von ihnen haben lange Reisen in Bussen und überfüllten Zügen hinter sich. Sie kommen aus dem Osten der Insel Java, sogar aus Sumatra. Sie folgen dem Ruf der „Gemeinschaft der Religionslehrer“, der Nahdlatul Ulama (NU), um in der Hauptstadt für ihren Präsidenten Abdurrahman Wahid zu beten, der bis vor seinem Amtsantritt Chef der NU war.
Die Männer, die auf den Platz strömen – auch einige wenige Frauen sind dabei –, sind die letzten Getreuen des Regierungschefs, der von Verschwörern und Verrätern im Parlament umzingelt ist. Das wissen sie von den frommen Männern in den Moscheen und ihren Lehrern in den Religionsschulen. Sie sind gekommen, um für „Gus Dur“ – Bruder Dur, wie die meisten Indonesier ihn nennen – einzutreten.
„Im Parlament sitzen lauter Diebe“
„Wir müssen seine Feinde warnen“, sagt der 26-jährige Syaiful Bahri. Er ist am Tag zuvor mit seinem jüngeren Bruder und einigen hundert Jugendlichen aus der ostjavanischen Heimatstadt des Präsidenten, Jombang, nach Jakarta gekommen. Was der junge Mann mit dem weißen T-Shirt und der Schachtel Longbeach-Zigaretten in der Hand damit meint: „Wenn das Parlament es wagt, Gus Dur morgen wieder eine Rüge zu erteilen, schlagen wir es kurz und klein.“ Er rückt sein schwarzes Basecap mit der Aufschrift „Power Muslim“ zurecht: „Das ist doch eine große Farce!“, sagt er, „im Parlament sitzen lauter Diebe! Und die wollen sich zum Richter über Gus Dur aufschwingen.“
Syaiful Bahri und sein Bruder haben die Nacht auf den kühlen Fliesen der Al-Munawaroh-Moschee in Jakarta verbracht. Das ist kein Zufall: Es ist Gus Durs Hausmoschee, sie liegt direkt neben dem Privathaus des Präsidenten in der Warungsila-Straße und gehört zur Stiftung Wahids, die – wie viele seiner geschäftlichen und politischen Beziehungen – eng mit der NU verquickt ist, die sein Großvater einst gegründet hat.
Syaiful Bahri gehört zu den politisch erfahrenen Teilnehmern des Gebets: Er hat an der Hochschule von Jombang islamisches Recht studiert und arbeitet heute in einer lokalen NGO, die Studenten betreut und sich, wie er sagt, „für den Aufbau der indonesischen Zivilgesellschaft“ einsetzt. Als Mitglied einer politischen Studentenorganisation hat er schon 1994 gegen die Korruption und Militärherrschaft im Suharto-Regime demonstriert und war vier Monate im Gefängnis.
Für Syaiful Bahri steht fest, wer schuld an den Schwierigkeiten Gus Durs ist: „Hinter allem steckt die Golkar“, sagt er und meint damit die Partei Suhartos, die heute noch zweitstärkste Fraktion im Parlament ist. Und dann wiederholt er, was viele Indonesier fest glauben wollen: „Die Freunde von Suharto sind immer noch stark“ und „haben nur ein Ziel“, sagt er: „Sie wollen Verwirrung, Terror und Aufstände provozieren, damit die Wirtschaft am Boden liegt und der Staat gefährdet ist. Dann kommen die Suharto-Leute zurück – mit dem Militär –, und eine neue Diktatur beginnt.“
In Jombang, wo er in einer Bauernfamilie aufgewachsen ist, ist das Leben seit dem Sturz von Suharto besser geworden – anders als in Jakarta, wo Arbeitslosigkeit und Verzweiflung immer noch zunehmen. Denn in den Hügeln Ostjavas werden Gewürznelken angebaut. Als der alte Diktator und seine korrupte Familie noch im Amt waren, hatte Suharto-Sohn Tommy das Monopol auf den gesamten Handel des Landes mit dem begehrten Gewürz. Den Bauern ging es damals schlecht: „Tommy zahlte ihnen nur 1.500 Rupiah pro Kilo“, erinnert sich Syaiful Bahri, „jetzt kriegen sie 25.000 Rupiah dafür!“ 25.000 Rupiah, das sind umgerechnet 5 Mark.
Was die Situation in Indonesien derzeit so gefährlich und kompliziert macht, ist die enge Verquickung von politischen und religiösen Loyalitäten und Feindschaften. Dazu kommt noch die für das Land typische Mischung aus Islam und magischen Vorstellungen, die besonders auf dem Lande und im Osten Javas stark ist – dort, wo die NU-Partei Wahids zu Hause ist. Auch für den jungen Aktivisten Syaiful Bahri ist Wahid vor allem „ein heiliger Mann, er ist mein Meister“.
Nur wenige Straßen weiter, in einem Pesantren, einer Koranschule der NU, ist eine andere Gruppe von Wahid-Anhängern untergekommen: Ein paar Dutzend Männer aus der zentraljavanischen Stadt Semarang. Sie sind ihrem Kyai – wie die frommen Männer und Geistlichen genannt werden, denen besondere Kräfte zugeschrieben werden – nach Jakarta gefolgt. Sie haben geschworen, für den Präsidenten auch ihr Leben zu lassen.
Diese so genannte Selbstmordtruppe gehört zu der Schar illustrer Gruppen, deren Ankunft Jakarta in Angst und Schrecken versetzt, seit der bedrängte Präsident in der vergangenen Woche mit einem „nationalen Aufstand“ gedroht hat. 400.000 Anhänger würden in die Hauptstadt kommen und verhindern, dass ihr Führer gestürzt werde, hatte Wahid der entsetzten Öffentlichkeit verkündet – und damit Erinnerungen an das schreckliche Ende der 32-jährigen Suharto-Ära im Mai 1998 heraufbeschworen, als ganze Straßenzüge Jakartas in Flammen aufgingen. In den Zeitungen erschienen daraufhin fast täglich Bilder von paramilitärischen Wahid-Anhängern bei ihren Kampfübungen.
„Dann schlagen wir los“
Der 42-jährige Chef der Selbstmordtruppe, Nuril Arifin, kam plötzlich zu Ruhm, als er erklärte, er werde „Zehntausende Anhänger“ zum Parlament schicken, die durch ihre magischen Kräfte vor den Kugeln und Bajonetten des Militärs geschützt seien und den Tod nicht zu fürchten hätten.
Nuril Arifin, einen Khakistoffhut auf dem Kopf, um den Hals einen langen, dünnen Schal mit Zebramuster, in den beringten Händen Handy und Krückstock, hatte sich am Samstag bereit erklärt, seine Selbstmordtruppe gleich nach dem großen Gebet nach Hause zu schicken. Die Anweisung des Präsidenten, keine Gewalt anzuwenden, „akzeptieren wir“, sagt er mit unbewegter Miene, „wir folgen immer den Befehlen“. Kunstpause. „Falls das Parlament es aber wagen sollte, am Montag gegen Gus Dur zu stimmen, kommen wir zurück.“
Dann schwingt er amüsiert seinen Krückstock und preist dessen Wirkung: „Er kann Schädel spalten.“ Das habe er aber, meint er lachend, bislang „nur an Steinen ausprobiert!“ Während er von seinem Assistenten fortgezogen wird, dreht er sich noch einmal um: „Niemals an Tieren oder Menschen!“
Sein Anhänger schwören unterdessen, dem Befehl ihres Führers Nuril Arifin zu folgen: „Wen er sagt, wir sollen losschlagen, dann schlagen wir los“, sagt der 24-jährige Fahrid, ein Händler aus Semarang. „Wenn er uns befiehlt, ruhig zu bleiben, dann tun wir das. So ist das bei uns immer gewesen.“
Ob der Präsident es in letzter Minute schafft, seine Anhänger zu zügeln und die befürchteten Unruhen in Jakarta zu verhindern, sollte sich das Parlament, wie absehbar, heute gegen ihn entscheiden, wird davon abhängen, ob er deren lokale Führer überzeugen kann – und ob er sie wirklich, wie er glauben machen will, in der Hand hat. Die 30.000 Teilnehmer hier vor dem Senayan-Stadion stellen nicht gerade eine Demonstration der Stärke dar.
Als der Präsident beim Gebet vor seine Anhänger tritt und sie aufruft, friedlich zu bleiben und nach dem Ende der Veranstaltung gleich nach Hause zu gehen, applaudiert ihm längst nicht jeder. Nur die Frauen klatschen einmütig. Doch in den Gesichtern vieler Männer spiegelt sich Trotz. Aus den hinteren Reihen der Menge kommt sogar spöttisches Gelächter. „Nach Hause gehen! Nach Hause gehen!“ rufen ein paar zurück.
„Er ist zwar weise, und wir verehren ihn sehr“, sagt Syaiful Bahri, „aber er ist alt. Wir sind jung, wir müssen kämpfen.“
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