DER ABM-VERTRAG IST ABSURD – ABER SEINE ABSCHAFFUNG IST GEFÄHRLICH
: Schutzlosigkeit akzeptieren

Präsident George W. Bush hat inzwischen gelernt, dass die Welt nicht Texas ist und diplomatisches Vorgehen nützlich sein kann. Aber die Botschaft war deutlich: Der ABM-Vertrag von 1972 sei ein Produkt des Kalten Krieges und durch technische Entwicklungen überholt. Er müsse abgeschafft und durch einen neuen „Rahmen“ ersetzt werden. Völkerrechtlich soll damit der Weg frei gemacht werden für ein Raketenabwehrsystem der USA.

Der russisch-amerikanische ABM-Vertrag ist in der Tat absurd konstruiert. Er verbietet es, Abwehrsysteme gegen weit reichende ballistische Raketen aufzubauen. Nicht die atomar bestückten Raketen selbst werden untersagt, sondern Systeme, die einen solchen Angriff abwehren sollen. Eine Technologie, die möglicherweise das Leben von Millionen Menschen retten könnte, wird eingeschränkt.

Doch so absurd der Vertrag erscheinen mag, er spiegelt nur die Absurdität der Atombombe und des Dogmas der atomaren Abschreckung. Der ABM-Vertrag ist das einzige internationale Dokument, mit dem eindeutig anerkannt wird, dass gegen Atomwaffen keine Verteidigung möglich ist. Nur diese Aussage macht ihn so wichtig. Gegen den ABM-Vertrag zu polemisieren ist deshalb verlogen. Mit dem Ende des ABM-Vertrages würden weder die atomaren Arsenale verschwinden noch würde die atomare Abschreckung beendet.

Gleichzeitig könnte die politische Wirkung fatal sein. Zwar ist der ABM-Vertrag formell nur ein zweiseitiges Abkommen zwischen Washington und Moskau. Aber viele Staaten, die auf Atomwaffen verzichtet haben, betrachten ihn als eine wichtige Gegenleistung der beiden größten Militärmächte.

Wenn die USA diese Rüstungsbegrenzung nicht einseitig, sondern mit der russischen Regierung aufweichen will, ist dies nicht weniger bedrohlich. Es bedeutet nur, dass jetzt beide einen Schutz gegen Atomwaffen wieder für möglich halten und ihre Rüstungspläne nicht mehr beschränken wollen. Eine gefährliche Botschaft. ERIC CHAUVISTRÉ

Autor des Buches „Das atomare Dilemma: Die Raketenabwehrpläne der USA“