: Das Ticken der inneren Spargeluhr
Wenn der Jieper kommt, ist der getriebene Genießer trotz aller Hindernisse nicht mehr zu halten
Ich war reif, meldete die innere Spargeluhr. Orgeln aus Spargelpfeifen tönten weithin übers flache Land und riefen mich zu den Anbaufeldern. Die Natur war zwar drei Wochen im Zeitplan zurück, doch ich schoss auf dem Motorrad wagemutig ins sandige Umland hinaus. Nur schneller, nur weiter – ich konnte es nicht mehr erwarten. Grünspargel warf in meinen Frühlingsfantasien seine meterlangen Schatten voraus auf die Autobahnausfahrt.
Doch vor die Freude hatte Gott die Landpartie gelegt. Bloß neun Kilometer fehlten noch bis zur dörflichen Spargelmetropole Seddin. Eine Gemengelage aus Kopfsteinen, Lehmbrocken, Staub und Dreck versuchte einen wegeähnlichen Zustand vorzutäuschen. Links wogte ein wellenbewegtes Kopfsteinmeer mit zufällig verteilten Tiefen, Untiefen und Leerstellen, rechts dagegen krauste sich ein Schlammteppich, dem einheimische Traktoristen extraterrestrische Oberflächenstrukturen verliehen hatten, und der, so schien es, mit Heißluftgebläsen bakelitartig gehärtet worden war. Der steinerne Mittelstreifen ragte zehn Zentimeter hoch auf. Kurz tanzte ich mit verletzlichen Reifen über die Schlammklingen, bevor ich pittoresk verschmutzte Vorgärten zur Umfahrung nutzte. So kam wieder Hoffnung auf, das Ziel noch vor dem Greisenalter zu erreichen. Der Spargel schoss mir durch den Kopf, und durch die perforierte Schädelplatte blies der Fahrtwind.
Die Abzweigung nach Kähnsdorf ließ jedoch schmerzlich auf sich warten. Ein heranwachsender Anwohner Seddins starrte mich und mein Hightech-Aggregat wie einen Marsmenschen mit Raumschiff an. Auf meine aus dem Helm gepresste Frage nach Kähnsdorf konnte er mir vor lauter Kulturschock keine Auskunft geben. Zum Glück registrierte ich ein verblasstes, an eine Scheune genageltes Holzschild, das hinter den Horizont wies. Ein Motorrad auf einem brikettbreiten Steinband vorwärts zu bewegen, das locker aneinander gefügt aus Treibsand aufragt, ist ein rechter Drahtseilakt und nur aus euphorischer Spargelvorfreude zu bewältigen. Schließlich ging ich sogar zum Stehendfahren über und zeigte dem frierenden Weidevieh das eine oder andere Motorradkunststückchen aus der langjährigen Fahrpraxis des potenziellen Selbstmörders. Hinter Kähnsdorf endete die Ausbaustrecke. Auf Betonplatten folgte feinster, ungebremster Dünensand. Die Reifen sackten weg, das Gefährt schleuderte, kippte, flog.
Märkische Sandruhe! Statt der erschreckt schweigenden Spargeluhr tickte einen Moment lang nur der glühende Motor im körnigen Silikon. Doch der Schock währte nicht lang. Schon erwuchsen mir aus meiner Spargelomania wieder ungeahnte Kräfte. Mit vom Sturz zitternden Knien stemmte ich die zweieinhalb Zentner Motorrad mit links. Weiter ging’s, die Füße als Kufen, schlitternd, schleifend und meterhohe Sandfontänen mit dem durchdrehenden Hinterreifen aufwerfend, quer durch die Wüste gen Schlunkendorf.
Plastikplanen, unter denen eine noch unsichtbare Armee aus Spargelsoldaten stand, säumten die Dünen. Nach drei Kilometern hatte ich meine Saharatauglichkeit hinlänglich unter Beweis gestellt, um mit dem Anblick der Oase belohnt zu werden: Schlunkendorf, die Spargelperle der Mittelmark. Malerisch verwaist bot sich das Nest dem Wüstenreisenden dar. War denn keiner da, der verkaufte? Wo waren die Festzelte, wo lächelte die Spargelkönigin?
Im Spargelmuseum, das extra für mich vorzeitig die ungeölten Fensterläden öffnete, stärkte ich mich mit einigen Gläsern „Spargelgeist“ für die Rückfahrt. Denn ich hatte eine herbe Enttäuschung zu verkraften: Meine innere Spargeluhr ginge leider zwei Wochen vor, beschied mich der 200 Kilo schwere Spargelhofbauer. Mir drehte sich alles ...
Ich stelzte zu meinem Spargelmobil zurück und schlug zur Heimfahrt einen sicher geteerten Umweg ein. Ortsnamen wie Kerzendorf und Stangenhagen gaben mir hundsgemeine Stiche in den unbefriedigten Spargelkopf. Vor meinen Augen sah ich das Bild dynamitartig gebündelter Spargelstangen mit bereits brennenden Zündköpfen. An einem Supermarkt kam ich quietschend zum Stehen und stürmte hinein. Fünf Packen „Fruitland-Esparragos“ aus Spanien im Arm, grün, Klasse 1, Kaliber 4, schlingerte ich heraus. Gerettet! Am nächsten kristallklaren Bach gewaschen, verzehrte ich die Hälfte gleich roh, die andere verspachtelte ich zu Haus. Mein Urin verfärbte sich grünbraun und stank bestialisch, doch das Ticken der Spargeluhr verstummte. Der Kopf war wieder frei. TOM WOLF
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