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Estland will Ablösesummen für Superhirne

Regierung fürchtet Abwanderung der Akademiker und IT-Spezialisten in die EU. Westfirmen sollen 60.000 Mark pro Kopf an Entschädigung zahlen

TALINN taz ■ Funktionieren soll es so ähnlich wie beim Fußball: Wirbt eine Mannschaft der anderen die Sturmspitze ab, muss dafür eine saftige Ablösesumme gezahlt werden. Auch die EU-Länder sollen sich nicht einfach bei den Arbeitskräften der Beitrittskandidaten bedienen können und gleichzeitig den eigenen Markt abschotten, fordert nun die Regierung von Estland. „Ansonsten führt der Beitritt zur EU dazu, dass man uns die besten Gehirne abwirbt“, erklärt Estlands EU-Chefverhandler Alar Streimann.

Er zielt damit auf den Vorschlag der EU-Kommission, auch nach dem Beitritt die EU-Grenzen für Arbeitskräfte aus dem Osten geschlossen zu halten und Freizügigkeit frühestens nach fünf Jahren zu gewähren. Die Grenzen stünden allerdings offen für Technik- und Computerexperten. Estland fürchtet nun das Ausbluten der Wirtschaft und sucht für seinen noch inoffiziellen Vorschlag Unterstützung bei den anderen Beitrittskandidaten.

Untersuchungen haben gezeigt, dass bis zu 8.000 junge und gut ausgebildete EstländerInnen ans Auswandern denken, sobald man EU-Mitglied ist, unter ihnen nahezu alle IT-ExpertInnen. „In der Regierung wurde daher der Vorschlag für eine Art Transferzahlungen wie beim Fußball laut“, berichtet Streimann: „Unternehmen in anderen EU-Ländern sollen mindestens die Kosten der Ausbildung zahlen, die unser System hatte“ –also ungefähr 60.000 bis 70.000 Mark pro Akademiker.

Der Vorstoß der EU-Kommission zur Abschottung des Arbeitsmarkts hat in Tallinn zu deutlicher Irritation geführt. „Das kann man nur als diskriminierend empfinden“, so Außenminister Toomas Hendrik Ilves, noch dazu, weil man zu allem Überfluss Zypern und Malta direkt aufnehmen wolle. Bekommen diese eine Ausnahme, dann gefälligst auch Estland, musste sich EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen kürzlich bei seinem Besuch in Tallinn vorhalten lassen: „Jedes Kandidatenland muss danach beurteilt werden, ob seine Arbeitskraft eine Bedrohung für andere Länder darstellt.“ Und das relativ hoch industrialisierte Estland mit seinen 1,5 Millionen Menschen sei gewiss keine Bedrohung: „Der EU-Stimmung bei uns wird das sonst gar nicht gut tun.“

Die ist schon jetzt alles andere als positiv. Nach der letzten Meinungsumfrage, die noch vor der kritisierten EU-Arbeitsmarktabschottung kam, sind sich nur noch 23 Prozent der EstländerInnen sicher, überhaupt in die EU zu wollen: 46 Prozent haben vor, bei einer entsprechenden Volksabstimmung mit nein zu stimmen. So viel waren es seit Beginn regelmäßiger Umfragen vor drei Jahren noch nie. Ilves will die schlechte Stimmung ernst nehmen: „Es sind nur noch zwei Jahre bis zur EU-Abstimmung.“

Die Skepsis richtet sich nicht gegen den Westen – für einen Nato-Eintritt gibt es klare Mehrheiten –, sondern speziell gegen die Union. Die wird in Umfragen mit Bürokratismus und Oberlehrerallüren gleichgesetzt. Außerdem wird der Beitritt für Estland erst einmal teuer: Mit Investitionen bis zu 10 Milliarden Mark rechnet der für EU-Fragen beim Wirtschaftsministerium zuständige Signe Ratso. Ein Fünftel davon wird allein die EU-Anpassung auf dem Umweltsektor kosten. Die Privathaushalte müssen sich im EU-Gefolge dazu noch auf kräftige Preissteigerungen bei Lebensmitteln, erhöhte Steuern auf Tabak und Benzin und um mehr als dreißigprozentige Preissprünge bei Strom, Gas und Wasser einstellen. Da ist es keine Werbung für die EU, Estland nun auch noch vom gemeinsamen Arbeitsmarkt auszuschließen, aber ohne Gegenleistung gezielt AkademikerInnen abwerben zu können. REINHARD WOLFF

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