: Der große Schwindel
Wie aus einem normalen Stadtplatz auf einmal ein ganzer Bezirk wurde. Eine Kriminalgeschichte über den größen Baubetrug Deutschlands. Teil IV der Serie „Wir Kinder vom Potsdamer Platz“
von FALKO HENNIG
(Cafégeräusche, Geschwatze und Geschirrgeklapper).
Eigentlich war ich verabredet. Aber sie würde wohl nicht kommen. Da hörte ich es zuerst, es waren nur Bruchstücke.
„Potsdamer Platz“ hörte ich und „Riesenschwindel“.
Ich wusste nicht, woher es genau kam, es war mir auch egal. Es passierte so viel, das meiste war illegal und es war besser, man wusste nichts davon. Sie entführten Kinder für Sexvideos, sie bauten die Glühbirnen mit Absicht so, dass sie möglichst kaputtgingen. Und wenn man darüber nachdachte, dann war das auch vollkommen logisch.
Ich bestellte mir einen Kaffee, die Kellnerin konnte ihre Müdigkeit nur mühsam unter Schminke verbergen. Nein, es war besser, man wusste es nicht. Man würde sich nur noch ein bisschen schlechter fühlen. Aus dem Stimmengewirr hörte ich wieder:
„Riesenskandal“ und „Wenn das rauskommt, Köpfe werden rollen, das geht bis ganz oben.“
Ich trank von dem Kaffee und war dann doch etwas traurig, dass sie nicht gekommen war. Dann spürte ich es. Es war das Bier vom Vorabend, eins zu viel, und was ich jetzt kommen spürte, nannte man Bierschiss. So ein Bierschiss kommt so plötzlich, dass man sich tatsächlich in die Hosen scheißen würde, wenn man nicht sofort eine passendere Gelegenheit findet. Ich stand auf und versuchte zu den Toiletten zu kommen, ohne aufzufallen. Wieder waren da von irgendwoher diese Satzfragmente:
„Mercedes Benz“ und „Sony“.
Ich war auf der Toilette. Es mussten noch alte DDR-Waschräume sein. Unmöglich, dass man bei den heutigen Mieten noch so etwas Großzügiges baute. Ich setzte mich und es kam aus mir heraus in der für Bierschiss üblichen Konsistenz. Da hörte ich Leute kommen.
„Was wollen Sie damit sagen?“
„Was ich damit sagen will? Es ist doch klar, es ist ein gigantischer Betrug. Ich bin durch Zufall dem größten Grundstücksbetrug Deutschlands auf die Spur gekommen.“
Jetzt war es zu spät für mich. Es war eine unangenehme Stimme. Jetzt konnte ich mich nicht mehr geräuschvoll bemerkbar machen. Sie würden dann wissen, dass ich ihre merkwürdige Geschichte gehört hatte, die mich nicht interessierte. Es würde besser sein, ich blieb still.
„Gut, hier wir sind hier ungestört. Was genau haben Sie herausgefunden?“
„Der Potsdamer Platz, Sony und Mercedes Benz bauen da, haben Sie das schon angeschaut?“
„Selbstverständlich, wie Sie wissen, bin ich der Immobilienanwalt dieser Konzerne.“
„Dann wissen Sie auch, wo da überall gebaut wird. Potsdamer Platz, Gleisdreieck, Bülowstraße, allein drei U-Bahnhöfe lang ist nur Baustelle. Und da bin ich stutzig geworden und habe mich gefragt: Wie groß war denn der Potsdamer Platz überhaupt? Mir war schon klar, dass es ein wichtiger Platz war. Aber so groß wie ein ganzer Stadtbezirk?
„Was wollen Sie damit sagen?“
„Ich war im Archiv. Alles konnten Ihre Helfer nicht beseitigen. Ich hab alte Stadtpläne durchgesehen, ich war im Grundbuchamt. Wie ich gedacht hatte, der Potsdamer Platz war ein ganz normaler Platz. Und jetzt ist der Potsdamer Platz ein Gebiet, so groß wie der Tiergarten.“
Ich hörte Schritte und traute mich nicht einmal, mir den Arsch abzuwischen. Oben wartete mein Kaffee, während hier schmutzige Machenschaften besprochen wurden.
„Ich hab alles rausbekommen. Und jetzt will ich meinen Anteil, nur eine Kleinigkeit. Ich hab es mal überschlagen. Selbst zu dem symbolischen Preis, den Sony damals bezahlt hat, müsste das zusätzliche Gelände 50 Milliarden wert sein. Beste Innenstadtlage.“
Es blieb einen Moment ruhig.
„Jetzt verstehe ich Sie. Ich denke, wir werden uns schon einig. Gehen wir wieder nach oben.“
Sie verschwanden und ich wartete zur Sicherheit noch eine Weile. Ich ging nach oben, trank meinen fast kalten Kaffee. Dann wollte ich los, so schnell wie möglich. Ich war schon viel zu lange hier. Manche sagten, die Menschen wären nicht schlecht. Aber mein Gott, wie sollte man es sonst nennen? Ich wollte bezahlen, da geschah es. In der anderen Ecke des Cafés, ein kleiner, dünner Mann mit wenig Haaren auf dem Kopf stand auf, griff sich an seine linke Seite und sackte auf dem Boden zusammen.
„Einen Arzt, einen Arzt!“, hörte ich eine Frauenstimme schreiben, hysterisch und hässlich im Ton. Ich blickte hin zu diesem Mann, der auf dem Fußboden lag, ganz allein mit seinem dünnen Haar und einem hässlichen Chemiefaseranzug. Es hatte den Immobilien-Anwalt erwischt.
Es war nicht so, dass diese Stadt besonders schlimm war. Sie war normal, vielleicht hässlicher und etwas offensichtlicher von den falschen Leuten regiert. Notärzte kamen hereingerannt und hatten den dünnen Mann in einem Augenblick auf ihrer Trage. Es schien mir, als ob einer in Schwarz neben der Trage lief, der aus einem kleinen, dicken Buch vorlas. Aber das täuschte wohl. Es war zu weit weg. Und ich wollte auch nicht neugierig sein.
Mir schien es noch einige Minuten, als wäre das Geschwatze ein wenig aufgeregter als normal. Dann kam die Kellnerin, und ich bezahlte. Sie sah jetzt besser aus, ihr Gesicht hatte eine frische Farbe. Sie bedankte sich für das Trinkgeld. Ich hatte eine Eingebung:
„Sagen Sie, wann haben Sie hier Feierabend? Es klingt sicher albern, aber ich würde Sie gern zu irgendwas einladen. Sie können sich aussuchen, was.“
Sie sah mich an, und ich bemerkte, dass sie schöne dunkle Augen hatte. Sie überlegte einen Moment, dann sagte sie:
„Ich habe in einer Viertelstunde Schluss. Und so viel ist sicher: Billig wird es nicht.“
Sie verschwand in der Küche. Der Tag war trübe und grau. Aber man musste ja nicht nach draußen gehen. Es gab viele Kneipen, Restaurants und Cafés. Und es gab Wohnungen in Berlin. Es war alles halb so wild.
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