Verleih' nie mehr als 100 Mark

■ Hurra oder Hoppla? Die Zahl der eidesstattlichen Versicherungen, früher Offenbarungseide genannt, ist in Bremen um 20 Prozent gesunken. Schuldnerberatungen spüren davon aber wenig

Bevor er zum Briefkasten ging, rauchte er erst mal einen Joint. „Jeder Brief war eine Drohung“, erzählt Michael J. heute. Lange flatterten dem gelernten Schiffsmechaniker nichts als Mahnungen ins Haus. Oder der Gerichtsvollzieher kündigte sich an. Damals, in den 80er Jahren, häufte er 30.000 Mark Schulden bei sechs verschiedenen Gläubigern an. Heute würde er „nie mehr als 100 Mark verleihen“. Wenn er die nur hätte. J.'s Schulden dürften sich inzwischen, inklusive Mahngebühren, Zins und Zinseszins fast verdoppelt haben.

Im modernen Schuldturm

Im Mittelalter wurden sie in den Schuldturm gesperrt, heute müssen sie zu Hause hungern. Gut sieben Prozent oder 24.000 Bremer Haushalte sind überschuldet. Da lässt eine Meldung des Hamburger Wirtschaftsinformationsdienstes Bürgel die Faulenzer im Freizeitpark Deutschland ganz besonders doll aufhorchen: Die Zahl der abgegebenen eidesstattlichen Versicherungen (EV) habe sich im vergangenen Jahr um sage und schreibe 19,4 Prozent (auf 8.222) verringert. Nur im Saarland (minus 19,6 Prozent) soll der Rückgang bundesweit noch größer sein. Die EV, früher „Offenbarungseid“ genannt: Damit gesteht der Schuldner ein, dass er komplett pleite ist. Und wird dafür in die Schuldnerkartei des Amtsgerichts eingetragen. Kann jeder einsehen – ein moderner Schuldturm.

Also: Fast ein Fünftel weniger eidesstattliche Versicherungen in einem Jahr. Sind die Bremer reicher geworden? Oder ist jede Statistik nur so gewieft wie der, der sie fälscht? „Die Verschuldungslage in Bremen ist mindestens genauso schlimm wie im vergangenen Jahr“, behauptet steif und fest Friedrich Stephan von der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Vegesack. Der Mann sollte es wissen. Er ist Chef der AWO-Schuldnerberatung, die jede Woche 50 Menschen in Notlagen aushilft. Zehn davon sind neue Fälle.

Auch Wolfgang Zaehle von der Inneren Mission in der Altstadt ist skeptisch: „Es wird immer härter. Inzwischen brechen Jugendliche ihre Ausbildung ab, weil sie nicht genug verdienen, um Gas und Strom zu bezahlen. Dann heuern sie bei einer Zeitarbeitsfirma an.“

Menschen zweiter Klasse

Außerdem dürfte das seit 1999 gültige Insolvenzrecht weitere Menschen in den Abgrund treiben. Natürlich sei es positiv, dass der Schuldner nach fünf oder sieben Jahren ,Wohlverhalten', also Abstottern, schuldenfrei ist. „Aber um dieses Wohlverhalten zu beweisen, muss er jede zumutbare Arbeit annehmen“, erklärt Schuldnerberater Zaehle. „Was heißt das? In Bayern ist es zumutbar, sich monatlich fünf Mal zu bewerben. Sonst kein ,Wohlverhalten' – die Sozialhilfe ist weg.“

Neun Schuldnerberatungen gibt es in Bremen. Dort kommen die hin, die keinen Ausweg mehr wissen. Meistens zu spät. AWO-Berater Stephan: „Sie stopfen ein Loch mit dem Nächsten. Aber nach dem ersten Eintrag bei der Schufa sind die Schuldner Menschen zweiter Klasse: Dann gibt es nämlich bei der Bank kein Konto mehr.“ Nicht nur die Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger und Geringverdiener sind gefährdet. Zaehle: „Unser Publikum ist bunt: Vom Obdachlosen aus dem Jacobus-Haus bis zum Yuppie, der es nicht lassen kann, an der Schlachte zu sitzen.“

Bei der AWO in Vegesack kennt man dieses Phänomen. Schuldnerberater Stephan: „Es gibt den Physiotherapeuten ohne Einnahmen, aber mit Millionenschulden. Oder die alleinerziehende Frau, deren Haus zwangsversteigert wird.“ „Und seit Neustem die Handy-Süchtigen“, ergänzt AWO-Kollegin Mechthild Schröder. Fast alle „Kunden“ der Schuldnerberatung besitzen ein mobiles Telefon: „Manche haben 15.000 Mark Miese bei vier verschiedenen Telefongesellschaften. Kürzlich kam einer mit einer 12.000 Mark-Telefonrechnung. Erst druckste er rum, dann gestand er, diese 0190er Nummern angerufen zu haben – weil er sich so alleine fühlte.“

Bei fast jedem dritten Fall sind Alkohol oder Drogen im Spiel. Oft auch Partnerschafts- oder Jobprobleme. Oder alles zusammen. Wie bei unserem Michael J. Als dessen Frau 1983 die Scheidung einreichte, war ihm plötzlich „alles egal. Ich sollte Unterhalt für mein Kind zahlen. Nur noch zahlen, zahlen, zahlen. Von da ab nahm ich Medikamente, Drogen.“ Und einen Kredit auf, „für einen Freund“, so J. heute. Der „Freund“ zahlte die 4.000 Mark nie zurück, jetzt ist der Titel 10.000 Mark wert. Dann akzeptierte J. einen nicht gedeckten Scheck über 1.000 Märker. Mit Zinsen, Mahnkosten, Zinseszins heute 4.500 Mark teuer. Weiter: Nach einer Schlägerei im Viertel verlangte die Krankenkasse des Geprügelten Schadensersatzansprüche in Höhe von 18.000 Mark von J. Macht, trotz Pfändungen, heute läppische 21.000 Mark. Und und und. Klar, J. ist selbst schuld.

Glauben an Sünder

Aber die Sache mit dem überzogenen Postscheckkonto (früher 1.600 Mark Miese, heute 3.000 Mark Schulden) kann doch (fast) jedem passieren. Oder die mit dem Sozialamt, das den Säumigen wegen Unterhaltszahlungen in Regress nimmt. Oder die, dass das Arbeitsamt Ausbildungsbeihilfe zurückfordert. Oder oder oder. Da sitzt Herr J., heute Frührentner, und beteuert mit Unschuldsmiene: „Ich bin jetzt wieder verheiratet, habe einen Sohn und möchte einen Schlussstrich ziehen.“ Und Herr Stephan, der Mann von der Schuldnerberatung, glaubt dem reuigen Sünder. „Zur Zeit haben wir alle Gläubiger um Stundung gebeten. Erst nächstes Jahr gehen wir da ran. Wir bieten sllen insgesamt 6.000 Mark über fünf Jahre an. Oder zahlen mit einem Privatdarlehen alles auf einen Schlag ab.“

„Unsere Pappenheimer“

Die Gläubiger hätten die Schulden längst abgeschrieben, würden nicht noch mehr Geld ins Eintreiben des Geldes investieren wollen. Stephan: „Man schickt schlechtem Geld kein gutes hinterher.“ Happy End für Herrn J.? Scheinbar ja.

Wie war das noch mal mit der gesunkenen Zahl eidesstattlicher Versicherungen in Bremen? Erst der Bremer Obergerichtsvollzieher Egon Bernhardt kann alles aufklären. „20 Prozent weniger? Kann sein. Seit 1999 dürfen Gerichtsvollzieher die eidesstattliche Versicherung selber abnehmen, früher taten das die Gerichte. Außerdem dürfen wir jetzt Ratenzahlungen mit dem Schuldner vereinbaren.“ Dadurch sinke die Zahl der EVs, früher bekannt als „Offenbarungseid“. Der Grund ist einfach: „Im persönlichen Gespräch können wir unsere Pappenheimer viel leichter zu Ratenzahlungen drängen.“ Dadurch werde die eidesstattlicher Versicherung mitsamt ihrer quälenden Folgen vielfach vermieden. „Das liegt in beiderseitigem Interesse und ist nicht so bürokratisch wie das Verfahren beim Gericht.“

Also: Es ist alles eine Frage des „persönlichen Gesprächs“. Und: Es gibt nicht weniger Armut in Bremen, aber jetzt dürfen die Gerichtsvollzieher die Armen dazu überreden, endlich ihre Schulden abzustottern. ksc