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Leben lernen in der neuen Heimat

aus Venlo und Nijmegen HENK RAIJER

Beriwan ist sichtlich überfordert. Die 32-Jährige sucht seit einer Minute vergeblich nach ihrem Namen an der Tafel und schaut ihre Lehrerin verschämt an. Die intoniert zum wiederholten Mal den ersten Buchstaben des Vornamens der Kurdin. Beim fünften Mal klappt’s: Beriwan Michael Hussein aus dem Irak, Mutter von sieben Kindern, malt erleichtert mit dem Filzer einen Kreis um ihren Namen. „Fünf Jahre lebt Beriwan schon in den Niederlanden“, sagt Kursleiterin Annemie Koenders, „aber immer nur hinter den Gardinen.“

Niederländisch für Ausländer im Regionalen Ausbildungszentrum (ROC) der Stadt Venlo. Annemie Koenders’ Gruppe fängt bei null an. Weder Beriwan aus dem Irak, noch Fadma und Fatiha aus Marokko oder Farid aus Afghanistan haben zu Hause je Lesen und Schreiben, geschweige denn das lateinische Alphabet gelernt. Unterrichtet wird, was von praktischem Nutzen ist. So werden etwa Stadtteile, Adressen und Postleitzahlen geübt. „Bei den Analphabeten kommt es uns nicht darauf an, dass sie nach zwei Jahren die Sprache beherrschen“, sagt Annemie Koenders, die mit Lauten, Gesten und Rollenspielen arbeitet. „Wichtig ist, dass sie den Weg zum Arzt alleine finden, ein Rezept lesen und mit den Lehrern ihrer Kinder reden können.“

Fadma Mallouka hat ihre anfängliche Scheu überwunden. Die 48-Jährige, die vor zehn Monaten mit zwei von vier Kindern aus Marokko zu ihrem Mann nach Venlo gezogen ist, führt den Bleistift mit Leidenschaft über das Papier. Präzise zeichnet sie ein „M“ in ihrem Arbeitsheft nach, korrigiert mit dem Radiergummi, spitzt häufiger als nötig den Stift. Fadma käme am liebsten öfter als die 15 Pflichtstunden pro Woche.

Beriwan Hussein und Fadma Mallouka haben sich nicht etwa freiwillig zum Sprachkurs gemeldet – in Holland gilt Schulpflicht für alle Nicht-EU-Bürger über 16, sofern sie „Neuankömmlinge“ sind oder als Alteingesessene Sozialhilfe beziehen. Und nicht nur das: Der „Wet Inburgering Nieuwkomers“ (WIN, zu deutsch: „Gesetz zur Eingliederung von Neuankömmlingen“) von 1998 hält für jeden Neubürger ein Eingliederungsprogramm bereit, das ihn über die 600 Stunden Spracherwerb hinaus mit Arbeitsmöglichkeiten und gesellschaftlichen Gepflogenheiten seiner neuen Heimat bekannt macht. Dauer: zwei Jahre, Teilnahme: Pflicht. Wer sich drückt oder den Unterricht schwänzt, muss mit Sanktionen rechnen (siehe Kasten). Nach dem ersten Jahr misst ein Test, der kein Examen sein soll, ob das erwünschte Lernziel erreicht ist.

Viele wollen sofort arbeiten

Anders als in der 90.000-Einwohner-Stadt Venlo, wo ROC-Ausbilder jährlich etwa 130 Eingliederungstests vornehmen und anschließend Lerninhalte und -ziele mit dem Sozialamt abstimmen, führt in Nijmegen das „Bureau Nieuwkomers“ die Regie bei der Eingliederung von jährlich bis zu 250 neuen Immigranten. Omar Delioglu ist einer von 15 Beratern, die in der 150.000-Einwohner-Stadt für die praktische Umsetzung des Gesetzes zuständig sind. „Viele wollen lieber gleich arbeiten, ohne den Umweg über den Spracherwerb. Frauen wollen zu Hause bleiben, nur für Mann und Kinder da sein“, sagt der 29-jährige Kurde mit holländischem Pass.

Delioglu erklärt den Neuankömmlingen beim „Intake“ als erstes, wie wichtig Sprachkenntnisse für ihre Orientierung auf eine Zukunft in Holland sind. Besser ausgebildete Flüchtlinge seien da in der Regel aufgeschlossener als etwa Zuwanderer aus Marokko. „Die ersten zwei, drei Male erklären wir den Leuten das, was sie erwartet, in ihrer eigenen Sprache, in einigen Fällen mit Hilfe des Dolmetschertelefons“, erzählt der Sozialpädagoge. Das schaffe Vertrauen. Nachdem jedoch der individuelle Eingliederungsparcours abgesteckt sei, der Berater seinen Klienten, wo nötig, persönlich vorgestellt habe, „setzen wir ihn in die Spur“, so Delioglu. „Und die Dozenten für Gesellschaftskunde und berufliche Orientierung sprechen nun mal kein Farsi oder Arabisch.“ Auch die Freiwilligen der Flüchtlings- und Migrantenhilfsorganisation VVN, die in Nijmegen Neubürger programmgemäß durch ihren Stadtteil führen, zum Arzt oder Anwalt begleiten oder ihnen das Fahrradfahren beibringen, sprächen vorzugsweise Niederländisch. Grund genug also, meint Omar Delioglu, die 600 Pflichtstunden gut zu nutzen.

Jeder siebte Schüler ist Analphabet

„Vier Mal im Jahr fangen wir bei Null an, für alle Profile, für alle Bildungsniveaus“, sagt Tonnie Argante, Leiterin des ROC-Ausbildungssektors „Niederländisch als Zweitsprache“ in Nijmegen. Im Schnitt sei jeder siebte Sprachschüler Analphabet, 50 Prozent habe im Heimatland eine Ausbildung erhalten, die größte Gruppe stellten die 30- bis 50-Jährigen, der Anteil an Frauen und Männern sei etwa gleich. „Wir streben danach, Schüler, die daheim etwa als Fernmeldetechniker, Ärztin oder Bauingenieur gearbeitet haben, schnellstmöglich auf einen guten Level zu bringen, so dass sie noch während des ersten Jahres bei einem Arbeitgeber anfangen können“, meint die 60-Jährige. „Auch wenn sie wegen fehlender Sprachkenntnisse zunächst unter ihrem Niveau arbeiten, haben wir mit der ‚warmen Überführung‘ in den Arbeitsmarkt durchaus Erfolg.“

Gelernt wird in den Klassenzimmern des ehemaligen Jesuitengymnasiums in Nijmegen auch am Computer. „Ijsbreker“ (Eisbrecher) nennt sich das interaktive Programm. Anhand der Alltagsgeschichten einer virtuellen Einwandererfamilie lernen Schüler aus 35 Nationen, wie sie Probleme, die sich auch ihnen stellen, aktiv angehen können. Wer mal nicht gleich versteht, zaubert per Mausklick Hilfe in eigener Sprache herbei. Einige Plätze sind heute leer geblieben. „Das ist leider kein Einzelfall“, klagt Tonnie Argante. „Manche fehlen häufig wegen der Kinder, andere brechen ab, um zu arbeiten. Da die Untersuchung der Fälle sich hinzieht, manche sogar lieber ein deftiges Bußgeld zahlen, als bei uns zu lernen, bleiben die Plätze leer. Und das bei dieser Warteliste . . .“ Die abzubauen, ist Aufgabe der „Taskforce Inburgering“ in Den Haag, die im Juni 2000 gegründet wurde. Etwa anderthalb Jahre nach In-Kraft-Treten des Gesetzes hatte sich herausgestellt, dass der Integrationsprozess nicht glatt verlief. „10.000 alteingesessene Immigranten stehen jährlich auf der Warteliste, weil laut Gesetz die Eingliederung von Neuankömmlingen Priorität genießt“, erklärt „Taskforce“-Pressesprecher Meűs van der Poel. „Wir haben ein einzigartiges System verpflichtender Eingliederung. Aber wir müssen den Kommunen Gestaltungsspielraum geben“, meint Van der Poel. „Wenn Leute fehlen, müssen wir alles daran setzen, diesem Ausfall zu begegnen.“ Bußgelder, wie sie Kommunen gelegentlich verhängten, seien „eine unpopuläre Motivation“. „Wir müssen die Kurse flexibler gestalten. Bei dem aktuellen Arbeitskräftebedarf in Holland ist es verflixt attraktiv, die Schule zu schwänzen.“

Je größer der Sog des Arbeitsmarktes, desto verlockender für Neuankömmlinge, schnell Geld zu verdienen. Für Sprachkurse bleibt da kaum Zeit, in den Abendstunden schläft so manch eine regelmäßig ein. Weil das neue Gesetz ein duales System aus Lernen und Arbeiten an keiner Stelle explizit untersagt, haben Sozialamt und ROC in Venlo gemeinsam mit dem Zeitarbeitsvermittler Randstad ein Pilotprojekt gestartet: Wer nicht sofort arbeiten geht, sondern erst einmal lernt, hat Arbeitsplatzgarantie.

Zehn meist junge Schüler absolvieren derzeit das Pflichtpensum binnen sechs Monaten. „Wir garantieren der Stadt, dass wir die Leute in einem halben Jahr soweit haben, Randstad garantiert den passenden Job für ein Jahr. Das hebt die Motivation“, weiß Nelleke Hielkema, deren Gruppe an diesem Nachmittag in Rollenspielen Warenumtausch ohne Kassenbon übt. „He, heute mal nicht die Exklusivabteilung Marokko“, fordert die ehemalige Grundschullehrerin zwei ihrer Kursteilnehmer zum „Partnertausch“ auf und wendet sich der Gruppe um Sebiha Gerdelj zu. Die 19-jährige Bosnierin, die seit einem Jahr in Holland lebt, büffelt auch außerhalb der Stunden. „Gerade für Leute wie sie“, so Nelleke Hielkema, „hoffe ich, dass Randstad seinen Teil des Vertrages einhält und die Eingliederung perfekt macht.“

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