Zwischen Demut und Hochmut

Essstörungen, ob als Magersucht oder als Adoniskomplex, sind keineswegs nur die Folge eines ungesunden ästhetischen Ideals. In ihnen äußert sich auch eine ideologische Sinnestrübung

von JÜRGEN MEIER

Am 16. Februar schreibt Shila im Internet: „Ich für meinen Teil habe auch das Problem mit dem Sinn in meinem Leben. Doch durch die ES (Essstörung) habe ich etwas gefunden, wofür ich ‚leben` kann. Ich sehe durch die ES einen Sinn in meinem Leben und auch eine Flucht aus dem immer gleichen Alltagstrott.“ (www.hungrig-online.de)

Die Zahl der Menschen mit Essstörungen wächst ständig. In den Dreißigerjahren gab es in Deutschland 1,1 Betroffene pro 100.000 Einwohner, in den Fünfzigerjahren waren es fünfmal so viele. 1993 – die Essstörungen wurden mittlerweile nach verschiedenen medizinischen Kategorien differenziert – ermittelte man allein bei der Anorexia nervosa (Magersucht) der zehn- bis neunzehnjährigen Mädchen eine Betroffenenzahl von ein bis drei Prozent.

Noch vor wenigen Jahren galt die Bulimie fast ausschließlich als Erkrankung von Frauen. Heute, so Alex Kobelt, Psychotherapeut an der Medizinischen Hochschule Hannover, sind bereits mehr als ein Achtel der Erkrankten Männer – 1987 war es nur ein Prozent. Die Essstörungen bei Männern dringen erst langsam ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Der Grund: Männer, besonders heterosexuelle, können schlechter über ihre Probleme sprechen als Frauen.

Bei Männern, die zu Beginn ihrer Essstörung meist noch Jugendliche sind, kehrt sich die Anorexie häufig nach einigen Jahren in ihr Gegenteil, in die Muskeldysmorphie, auch Adoniskomplex genannt. Nicht dünn, sondern muskulös soll dann ihr Körper sein. Diese Form der Essstörung, bei der die Betroffenen ständig darauf achten, dass der Fettanteil ihres Körpers zu Gunsten der Muskelmasse gesenkt wird, was häufig durch die Einnahme von Pharmazeutika begünstigt werden soll, trifft besonders Männer.

Essstörungen sind menschliche Reaktionen auf gesellschaftliches Arbeiten und Leben. Und sie sind ideologisch geprägt. Der eigene Körper wird zum ständigen Bezugspunkt der täglichen Zielsetzung. Anders als in der abstrakten Arbeit der Berufstätigkeit kann der oder die Betroffene hier unmittelbar die Wirkung der „Körperarbeit“ überprüfen. Menschliche Beziehungsfähigkeit und ein klarer Blick für die Beziehung zur äußeren Natur (Spaziergänge, körperliche Arbeit, Sexualität) verkümmern dagegen.

Bei Menschen, deren Essstörung keine körperlichen Ursachen hat, sind – ob bewusst oder unbewusst – Ideologien wirksam, mit denen die Betroffenen gesellschaftliche Konflikte austragen. Lenchen antwortet Shila am 17. Februar im Internet: „Du hast in gewisser Weise Recht, dass die ES vielleicht eine Zeit lang den Sinn des Lebens ausmachen kann. Aber einen wirklichen Sinn finde ich eben nicht in meinem Dasein.“ Die Betroffenen verhungern an der empfundenen Sinnlosigkeit ihres Lebens.

Sie weisen damit auf eine Ideologie hin, die so nur in den Industrieländern vorherrscht. Nur hier gibt es durch die globalisierte Marktwirtschaft die ideologische Möglichkeit, sich selbst aus dem Ganzen der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausklammern zu können. Anorexia ist weder in den Ländern der Dritten Welt von Bedeutung noch in islamisch geprägten Ländern mit stark patriarchalischen Strukturen – noch in Staaten wie der DDR oder Albanien, in denen der Widerspruch des Einzelnen zum Ganzen durch Gleichschaltung unterdrückt wurde. Auf den Fidschi-Inseln, wo es erst seit 1995 einen Fernsehsender gibt, der den „american way of life“ auf die Inseln brachte, hat sich die Zahl der bulimischen Frauen seither verfünffacht.

Die selbstgewollte Essstörung ist nicht die Folge eines materiellen Hungers der Gesellschaft, sondern einer ideologischen Not. Sie ist an den Willen eines Menschen gebunden, der verzweifelt sucht, was immer magerer wird: ein sinnvolles Leben. Diese Form der Essstörung taucht erst dort auf, wo die Menschen sich als Waren auf einem anonymen Markt anpassen und verkaufen müssen, den sie nicht mehr unmittelbar durchschauen können. Sie wissen nicht mehr, ob ihre Lebensleistung überhaupt einen menschlichen Sinn macht. Arbeit ist Mittel zum Zweck des Erfolgs und des Gelderwerbs geworden. Die Schule soll immer intensiver auf diesen Zweck hinwirken („Schulen ans Netz“). Shila am 5. März: „Wir werden reingeschmissen in diese Welt, und diese Welt hat schon den perfekten Fahrplan für uns. Wir werden dazu angehalten, uns anzupassen und Dinge zu lernen, die wir lernen sollen, und nicht Dinge, die wir lernen wollen.“

Nach Lawrence Diller, Autor des Buches „Running on Ritalin“, sind die Amerikaner so sehr über ihre Jobs, den Markt und die Erfolgschancen ihrer Kinder besorgt, dass sie die Kinder in immer jüngerem Alter einem unmöglich einzulösenden Leistungsdruck aussetzen. Mit Antidepressiva oder Leistungsverstärkern wie Ritalin oder Prozac, die sie ihren Kindern verschreiben lassen, können sie die emotionalen Kosten des Anpassungszwangs freilich nicht kompensieren.

Magersucht oder Bulimie sind Erscheinungen dieses Zwangs. In die Sackgasse der Essstörung geraten suchende Einzelne, deren Askese verhindert, was sie eigentlich einfordern wollen: intensive und intime Beziehungen zu anderen Menschen. Die Askese führt sie in die Isolation des eigenen Körpers und ist eine Konsequenz der Ideologie, die allein im Einzelnen das Wesen des Menschen glaubt erkannt zu haben.

Aus dem Schmollwinkel der Selbstisolation schauen die Betroffenen häufig auf die „Anderen“. Statt mit Mode oder Kosmetik, beschäftigen sie sich lieber mit Fasten und Selbstbeherrschung. Die „Anderen“ werden aus dieser Sicht zu den „Abhängigen“, den Fetischisten, die sich „primitiv“ ihren Bedürfnissen hingeben.

Die gängigen Psychotherapien bleiben an dieser Vereinzelung der Betroffenen kleben, weil sie den Blick auf den „perfekten Fahrplan“ der Gesellschaft, an dem die Einzelnen zerbrechen, scheuen. Die Essstörungen, die bislang ausschließlich als Krankheiten behandelt werden, sind ideologische Täuschungen – Reaktionen auf eine von menschlicher Unmittelbarkeit immer entferntere Gesellschaft.

Die bürgerliche Ideologie vom isolierten Glücksstreben allerdings wird auch von den Betroffenen nicht verlassen. Sie suchen den Sinn ihres Lebens in einer Askese, die zwischen Demut und Hochmut schwankt. Sie wollen anders sein als die anderen. Sie übertreffen dabei diese Anderen, indem sie deren blinde Leistungswut in sichtbaren Leistungswahn am eigenen Selbst steigern. Sie gehören meist zu den „besseren Schichten“ der Gesellschaft. Existentielle Not ist ihnen fremd.

Doch nutzen sie diese materiellen Möglichkeiten nicht, um Selbstbewusstsein in Bezug zum Ganzen zu erzielen, sondern suchen es vergeblich in sich selbst. Viele Patientinnen werden als perfektionistische Musterkinder beschrieben, angepasst, leistungsorientiert, gewissenhaft, gefügig. Im Vordergrund steht der Kampf um Autonomie bei Abhängigkeit von externen Standards („Alles oder Nichts“-Denken). „Unsere Ergebnisse“, heißt es in einem Bericht der Uni Marburg, „weisen darauf hin, dass die Anorexia nervosa nicht nur eine episodische, alterstypische Erkrankung zu sein scheint, sondern sowohl im Längs- als auch im Querschnitt eine hohe psychiatrische Morbidität aufweist.“

Die Magersüchtigen ähneln dem Franziskus von Assisi, der durch strenge Askese den Eigenwillen des Geistes zum Sieg über die Natur führen wollte, um Gott zu huldigen. Demut und Selbstkasteiung verknüpften sich bei ihm andererseits mit Hochmut. Er wollte so sein wie Gott und stach sich auf dem Berg Alverna, auf den er sich zurückgezogen hatte, um vierzig Tage zu fasten, zu beten und mit dem Teufel zu ringen, in Handflächen und Fußrücken die Wundmale Christi. In der Askese geht es vordergründig um Verzicht, eigentlich aber um Macht und Naturbeherrschung. Um andere in den Griff zu bekommen, muss man auch sich selbst in den Griff kriegen, seine Triebe koordinieren, seine Wünsche komprimieren.

Die moderne Askese der Magersucht braucht selten einen äußeren Gott. Man meditiert mit sich, fastet, um sich selbst zu reinigen, und bekommt dafür noch die Bewunderung, das Mitleid, die Zuwendung der „Anderen“, deren Labilität und Unfähigkeit zur Selbstdisziplin bedauert, wenn nicht sogar verachtet wird. Da vegetarische und asketische Lebensweisen mit humanistischer Ideologie gleichgesetzt werden, sind die „Anderen“, die sogar Fleisch nicht aus ihrer Nahrungskette verbannen wollen, bereits als Antihumanisten entlarvt. Man entzieht sich so einer formulierten Kritik an allem, was in der Gesellschaft menschlich entfremdet ist und verhindert auf diese Weise, dass man wirklich einmal gegen den Strom schwimmen muss, um sich in einem streitbaren Dialog, der nicht in die Isolation des eigenen Körpers führt, selbst erkennen zu können.

Magersucht oder Adoniskomplex sind keine isoliert zu bewertenden ästhetischen Probleme mit dem „Schönheitsideal“, sondern Folge eines starken Willens, der verzweifelt aus dem Jammertal der Familie, der Schule, der Arbeit, der Gesellschaft zu flüchten versucht. Die Betroffenen spüren die Dumpfheit der banalen Konsumwelt und bleiben dennoch an deren Wurzeln kleben. Sie bilden die Kehrseite derselben Medaille, die sich individueller Wettbewerb nennt und bei dem nur die „Stärksten“, die „Besten“, die „Härtesten“, die „Schönsten“ oder „Intelligentesten“ zu Siegern gekürt werden.

JÜRGEN MEIER, 51, ist Publizist und lebt in Hildesheim