Fans für einen Sommer

Kennen Sie Prata Vetra? Das ist Lettisch und steht für „Brainstorm“. Unter diesem Namen trat Lettlands beste Boygroup beim Grand Prix 2000 an, gewann den dritten Platz und ein wenig Respekt vom Nachbarn Estland

von ELISABETH WAGNER

Das Lied hieß „My Star“ und trug dem Grand-Prix-Debütanten Lettland für eine Saison die Liebe seines Nachbarn Estland ein. „Brainstorm is playing tonight“: In Estland, wo man die Letten zehn Jahre nach der staatlichen Unabhängigkeit gerne für „dumm und sowjetisch“ hält, war das plötzlich die gefeierte Losung.

Vergessen, dass lettische Bands in Estland ansonsten Nichtachtung genießen. Und was machte es, dass in Lettland Brainstorm schon lange als die eigenen Beatles gelten? Am Fernsehapparat, über Liveschaltung aus Stockholms Globe Arena, erfuhren die Esten am 13. Mai 2000, dass gleich hinter der Grenze eine Boyband lebt, der sie nun auf einmal unbedingt zuhören wollten. Die Liebe war frisch.

Sommeranfang, 21. Juni. Brainstorm spielt in der Stadt Pärnu, an der Küste Estlands. Alte Männer sitzen vor dem Schnapsladen, am Strand schmettern junge Männer einen Volleyball. Gegen halb sechs beginnt der Einlass. Hinterm Absperrgitter, unter Ahornbäumen läuft bereits das Vorprogramm. Karmo schwenkt gelbe Lichtkegel über das Bühnendach. Karmo ist 21 Jahre alt, lebt in Estlands Hauptstadt Tallinn. Im Sommer fährt er die Ostseeküste ab, verdient sich sein Geld als Lichtmischer bei den großen Festivals. Für Brainstorm darf er nicht leuchten, das wird später der Lightoperator der Band selber regeln. Karmo wirft das Licht bloß auf Kinderstars, die zum Vollplayback Janet Jackson geben. Die Gleichung ist einfach: Je mehr Karmo die Darbietung mag, desto besser wird das Licht. „Not so good.“ Heute wird es nicht besonders, sagt er. Karmo liebt Computer und wohnt bei seinen Eltern. Jedes Vierteljahr tanzt er auf dem Rave in Tallinn.

Die Mädchen haben sich die Lippen rosa gemalt, die Augenlider tragen schweres Blau. „O ja, wir lieben Brainstorm“, sagen die Mädchen. „O yes, since Eurovision.“ Heute war letzter Schultag, die Ferien verbringen sie bei der Oma am Meer. Die Eltern sagen, dass die Letten faul sind wie die Russen und sich nicht gut und europäisch benehmen können. Seit dem Grand Prix klingen die Eltern vorsichtiger.

Ein Name, ein Schrei. Die Verwandlung geschieht plötzlich. Schlag elf. Sie rennen für den, der „great“ und „nice“ ist und den sie „Mister Positive“ nennen. Es ist ein Sog zur Bühne, durch sandiges Gras. Renars ist schön. Sein Körper steckt in weißen Hosen und einem grünen Neonshirt. Von vorne, so wie der Sänger und Star von Brainstorm jetzt vor dem Mikrofon steht und die erste Welle der Hysterie abwartet, haben Schultern und Gesicht etwas Weiches. Er will, dass man ihn ansieht, ihm auf den Mund starrt und ersehnt, was als Nächstes kommt. Pause. „This is Brainstorm.“ Renars lacht, legt den Kopf nach hinten, fängt an. „Welcome to the Brainstorm Show!“

Bis zum Mittag hatte die Stadtreinigung alles wieder in Ordnung gebracht. Kein Wodkabecher, kein Rest von Rausch und Feuerwerk, nicht ein einziger Krümel. Bloß Sand und Mittagsruhe. Ein paar Jungs fahren mit ihren Rädern den Bühnenrand ab, zwei Frauen machen ihren Spaziergang. Es sind die Chefsekretärin einer österreichischen Tageszeitung und ihre Freundin, Managerin bei Siemens. Nach zwei Wochen Gruppenreise durch die baltischen Staaten freuen sie sich auf morgen. Dann geht es zurück nach Wien. Die Managerin in Bermudashorts macht sich Sorgen über die große Armut der baltischen Länder. „Da wird Europa noch viel zu tun haben“, sagt sie. „Wo die doch alle in die Europäische Gemeinschaft und die Nato wollen.“ Morgen Abend will sich ihre Freundin, die Chefsekretärin, zu Hause beim Lieblingsitaliener erholen.

Brainstorm spielt morgen in Tallinn. Von Pärnu braucht der Bus zwei Stunden zehn Minuten. Es ist die Nacht auf den 24. Juni. Jaanipäev. In der wichtigsten Nacht des Jahres sollen die Mädchen neun verschiedene Blumen sammeln und auf einer Wegkreuzung zu einem Kranz binden. Im Traum wird ihnen der zukünftige Ehemann erscheinen, heißt es. Karmo ist wieder da. An der Bühne vor dem See hängt Werbung für Mobiltelefone. Am Ufer blühen Heckenrosen, zwei dicke Frauen schwimmen aufeinander zu. Hinter dem See liegt der Wald. Karmo muss sich gedulden, bis der Mann für das Brainstormlicht seine Vorbereitungen abgeschlossen hat.

Schaschlik und Bier machen glücklich. Ein Feuer brennt. Junge Männer lassen sich auf einer finnischen Kikingschaukel festbinden, um den Überschlag zu schaffen und kopfüber in der Luft zu stehen. Eine junge Frau namens Helen erzählt einen Witz, den sie gestern in der Zeitung las: Die Jungs von Brainstorm denken, da ihre Lieder in Estland doch so erfolgreich sind, wäre es besser, sich zum Esten umoperieren zu lassen. Der Arzt verspricht, dass alles ganz einfach sei. Er müsse nur das Gehirn verdoppeln. Bei der Operation geht aber etwas schief, und anstatt das Gehirn zu verdoppeln halbiert es der Arzt. Die Brainstormjungs stehen nach der Operation auf: „Kyllä on hyvä olo!“, in Finnisch. „Ich fühle mich aber gut!“

Drei Jahre hat Helen in Deutschland im Hotel gearbeitet und dort keine Frau gesehen, die es verdient hätte, schön genannt zu werden. „Keine einzige.“ Sie selbst, sagt Helen, laufe sogar an freien Tagen für ihre Friseurin Reklame. Schönheit zählt. Auf der Bühne suchen sie den stärksten Esten, Trinklieder auf eine „Tante Anna“ bringen alle Mädchen zum Tanzen. Männer sind kein Thema. Als Renars „Welcome to my country“ singt, jubeln die Esten. Nach einer Stunde ist es vorbei, Brainstorm macht sich im Bandbus noch in dieser Nacht auf den Heimweg nach Riga.

Konzertpause. Es regnet. Riga, die Haupstadt Lettlands, ist berühmt für Jugendstil und Vollmilchschokolade. Die Tuberkulose-Ambulanz fährt durch die Straßen. In Riga sprechen über die Hälfte der Menschen Russisch. Jedes Jahr legen lettische SS-Veteranen ihre Uniformen an und marschieren durch die Innenstadt. Die Leute schenken sich oft Blumen, die sie auf der Straße bei alten Frauen kaufen. Die Zahl der Blumen muss ungerade sein, eine gerade Zahl bedeutet den Tod. Manchmal sieht es so aus, als müsste gerade irgendwo eine Hochzeit sein, und die Passanten, die mit den Blumen über die Straßen laufen, sind geladene Gäste auf ihrem Weg dorthin. Was ist denn heute nur los? Ein Mann dreht sich um, schüttelt den Kopf: „Nichts“, antwortet er.

Renars kommt gerade aus dem Fitnessstudio, lehnt jung und schmal in der Tür. „Ich bin ein Träumer“, sagt Renars, der alle Songs von Brainstorm selber schreibt. Oft kommt darin das Wort „Himmel“ vor. Renars ist 24, verheiratet, er hat zwei Söhne. Die Vaterrolle übernimmt er auch für die Band. Er übersetzt für Magic und Mike, für Peter und Nick. „We are a family“, sagt er. Wenn er in Riga ist und seine Plattenfirma gerade nichts von ihm will, kümmert er sich um die Kinder. Dann fahren sie an den Strand nach Jurmala. „To see the sea.“ Er lacht über den Gleichklang der Wörter. Brainstorm heißt auf Lettisch „Prata Vetra“. Die Tante von Nick, dem Schlagzeuger, hat den Namen erfunden. Wann ist das nächste Konzert? „Übermorgen, in Liepaja.“

Von Riga nach Liepaja nimmt der Bus die Landstraße. Die meisten der Fahrgäste sind Großmütter und Enkeltöchter. Sie haben auf dem Markt in Riga den Ertrag der Feldarbeit verkauft. Im Bus riecht es nach Müdigkeit. Irgendwann hört man auf, die Störche zu zählen. Busse sind wichtig für Lettland.

Die Leute sagen, dass alle Musiker Lettlands aus Liepaja kommen, und dass dort immer ein Wind weht. Am Strand von Liepaja hat die Ostsee eine starke Brandung. Liepaja, das klingt schön. Sehr sogar. Dshamila träumt sich trotzdem weg. In Jeans und dunkler Jacke sitzt die junge Russin auf einer Bank vor dem Busbahnhof. In der Woche bringt sie kleinen Kindern Englisch bei. Ihr Kopf arbeite zu schnell, sagt Dshamila. Sie müsse endlich studieren, sonst wird sie noch verrückt. Einmal hatte sie angefangen, aber das Geld reichte nicht. Dshamila weiß ein gutes Rezept, wie man erkennt, wer man wirklich ist: einen Koffer packen, mit Lieblings-CDs und der Karte von Irgendwo. Auch wenn sie nie die Stadt verlässt, hilft der Koffer zu entdecken, was im eigenen Leben wichtig und nicht transportabel ist. Ihr Freund ist im letzten Sommer an einer Überdosis Heroin verreckt. Für Brainstorm hat sie keine Zeit. „Schade“, sagt sie.

Am Nachmittag probte Brainstorm auf der Bühne hinter den Dünen. Gegen den Wind hatte Reynard eine Jacke mit Kapuze an. Vor dem Tor wartete ein Mädchen mit Blumenstrauß. Brainstorm war jetzt die lettische Band Prata Vetra. Es schien weniger anstrengend, Prata Vetra zu sein, denn Reynard sah noch jünger aus. Das Mädchen und er winkten sich zu. „Sweet“, sagte das Mädchen, heiße auf Lettisch „jauks“.

ELISABETH WAGNER, 34, lebt als freie Journalistin in Berlin