: Touristen im eigenen Land
■ Egon Schay musste 1938 seine Geburtsstadt Bremen verlassen. Aus Kapstadt/Südafrika ist er mit seiner Frau für eine Woche besuchsweise zurückgekehrt. Über die Einladung der Stadt Bremen haben sich beide sehr gefreut
Zwanzig Kinder lachen in die Kamera. Sie schwenken Fähnchen, irgendein Fest beginnt. Einer hält das Fähnchen mit dem Hakenkreuz nach unten, aber auch er lacht. Dass er nicht mitwedelt, ist Zufall. Es ist der Jude Egon Schay. In Bremen geboren, in Bremen zum Kindergarten gegangen. Die Schule durfte er nicht mehr besuchen. Er war acht Jahre alt als er mit seinen Eltern auswandern musste in die britische Kolonie Rhodesien. Heute lebt er in Kapstadt/Südafrika. Das Bild aus Kindergartentagen hat er zu Hause gelassen. Jetzt, auf Einladung des Senats zu Besuch in Bremen, würde er es doch gerne zeigen, eines der wenigen Andenken an seine Geburtsstadt.
Der Vater war Drucker, die Familie – Egon war das einzige Kind – wohnte in einer Doppelhaushälfte am Hastedter Osterdeich. Eines Tages nahm die Gestapo den Vater mit, verhörte ihn einen Tag lang. Ein anderer blieb bei Mutter und Kind. „Er hat mit mir Eisenbahn gespielt“, erinnert sich der heute 71jährige mit dem immer noch deutschen Pass. Der Vater kam wieder. Wir packen, habe er gesagt, es ist genug.
Im August 1938, wenige Monate vor der Reichspogromnacht flüchtete die Familie. Mit dem Zug nach Holland und von dort mit dem Schiff nach Rhodesien. Auch Möbel nahmen sie mit in einem hölzernen Container. An die Zugfahrt erinnert sich Egon Schay nicht mehr, wohl aber an die Schiffsüberfahrt. Sie dauerte zwei Wochen und schön sei sie gewesen.
Er erinnert sich auch daran, wie die Mutter gepackt hat und der Vater sagte: „Ich fahre nicht mit acht Geschirren nach Afrika.“ Also ließen sie die vier Service für das Passah-Fest hier, die anderen vier nahmen sie mit. „Milchig gut und milchig täglich, fleischig gut und fleischig täglich“. Für die Pesach-Woche gibt es das gleiche nochmal, denn hier werden nicht nur Milch und Fleisch getrennt – die Teller dürfen auch nicht mit gesäuertem Brot in Berührung gekommen sein. „Pesach fleischig gut, Pesach fleischig täglich“ zählt Schay auf, „sind nicht mitgereist.“
Heute haben die Schays wieder achterlei Gerschirr. Seine Frau Esme, Südafrikanerin und zwei Jahre jünger als er, ist die Tochter eines Rabbiners. Ein liberaler Rabbi, er wohnte in einem Dorf bei Johannesburg. „Einmal“, so erzählt Schay „wollten wir ihn besuchen. Aus Rhodesien waren wir schon in Johannesburg angekommen und er wollte seine Tochter unbedingt sehen. Aber ich wollte nicht mehr fahren. Wir wären sonst am Schabbat im Haus eines Rabbis angekommen. Das macht man nicht.“ Der Rabbi, dem die Regel weniger wichtig war als seine ,Kleine', habe am Telefon getobt, es hat aber nichts genutzt. Erst am Sonntag fuhren die Schays zu ihm.
Die Eheleute haben zwei Kinder, Ernst und Rebecca. Und vier „Großkinder“. Auch die Kinder leben noch nach den Regeln der jüdischen Religion. Und die Enkel? Werden sie auch so leben? „Die Großsöhne ja, die Großtochter weiß ich nicht. Sie denkt so am Montag und so am Freitag.“ Mit fünzehn ist sie das älteste Enkelkind.
Über die Zeit in Rhodesien sagt er, sie sei „nicht so schlecht“ gewesen. Die Familie kaufte sich von den 150 Pfund, die ein entfernter Verwandter dort hinterlegt hatte, ein kleines Häuschen. „Mein Vater war krank aus dem ersten Krieg. Er musste am Magen operiert werden. It was the first money we spent in Rhodesia“. In Bulawayo, der Stadt in der sie lebten, gab es ein „Camp“. ein Kriegsgefangenenlager. „Da waren Deutsche drin, ich weiß nicht, ob es Nazis waren, Feinde jedenfalls und die Juden haben sie bewacht.“
Seine Mutter – sie hatte nie vorher gearbeitet – nähte zu Hause Kleider. Dann arbeitete sie in einer Fabrik für Regenjacken. Egon Schay lernte Automechaniker und machte eine Werkstatt auf. Das ging gut, bis 1965. Bis Rhodesien unabhängig wurde und Simbabwe hieß. „Es gab weniger Kunden, viele sind damals aus Rhodesien weggegangen.“ Bis 1989 hat Schay dann bei der Eisenbahn gearbeitet. Von der, wie er sagt, spärlichen Pension lebt er jetzt. Auch Esme Schay, die einmal Lehrerin in Rhodesien war, bekommt Rente. Aber die Überweisungen seien nicht regelmäßig, die Kinder müssten aushelfen.
Auf einem Konto in Bremen liegt auch noch ein bisschen Geld. Es ist übrig von dem, was die Familie als Wiedergutmachung bekommen hat. Nach Rhodesien konnte das Geld aus irgendeinem Grund nicht überwiesen werden, mit der Post wollten sie es sich nicht schicken lassen. Zweimal schon reisten Herr und Frau Schay deshalb hierher, um Geld abzuheben. Geld, mit dem sie gereist sind, nach Israel, wo Freunde der Mutter leben und nach Australien.
Vor 25 Jahren landete Egon Schay zum ersten Mal nach seiner Flucht wieder auf einem deutschen Flughafen. „Ich bin ausgestiegen und konnte nicht sprechen.“ Einen ganzen Tag lang nicht. Seine Frau, sie spricht heute auch ein wenig deutsch und versteht es sehr gut, hat sich damals mit Jiddisch und Afrikaans auf dem Flughafen in Köln verständigt und nach dem Zug nach Bremen gefragt.
Egon Schay weiß nicht mehr, ob in seinem Elternhaus in Rhodesien über die Lager gesprochen wurde und über die Vernichtung der Juden. Kann sein, sagt er, dass sie vor ihm, dem Kind, geschwiegen haben. Er weiß, dass sein Vater nie mehr nach Deutschland zurückwollte.
In Südafrika haben die Schays nicht viel Kontakt zu den Deutschen. Die jüdische Gemeinde ist groß, aber es sind nicht so viele deutsche Juden, hauptsächlich Spanier, auch Inder – er käme mit allen gut aus. Er glaubt, dass auch seine Familie ursprünglich aus Spanien stammt, der Name spräche dafür.
Nach Deutschland ist er, so glaubt er, zum letzten Mal gereist. Der Flug ist anstrengend und teuer, noch einmal werden sie nicht eingeladen. Seine Frau wirkt am vierten Tag des einwöchigen Aufenthalts müde. Aber beide sind voll des Lobes über das Besuchsprogramm, das der Bremer Senat nun schon zum achten Mal für ehemalige Bremer Juden und Jüdinnen veranstaltet. Dabei ist es eine besondere Geschichte, wie die Schays dort reingerutscht sind. Schon seit Jahren schreiben Mitarbeiterinnen des Landesamtes für Wiedergutmachung an die Adresse der Schays in Simbabwe. Ein Freund sollte ihnen die Post nachsenden, was der aber versäumt hat. Von sich aus haben sich Egon und Esme Schay an die Stadt Bremen gewandt. Und dort war man hocherfreut, die beiden „wiedergefunden“ zu haben und lud sie zur nächsten Besuchsrunde.
Morgen endet ihre Reise, dann fliegen sie nach Hause, nach Südafrika. Für die Enkel haben sie T-Shirts mit den Bremer Stadtmusikanten gekauft. Esme Schay hat Postkarten vom Ausflug nach Fischerhude, zu dem sie die deutsch-israelische Gesellschaft am vierten Tag ihres Besuches eingeladen hat. Auf der Fahrt dahin kommt Herr Schay an dem Haus vorbei, in dem er die ersten acht Jahre seines Lebens verbracht hat. „Vielleicht gehe ich noch dahin“, sagt er, und sieht zum Busfenster hinaus. Bis zum Vorabend des Abreisetages hat er es nicht getan. Wie er sich gefühlt hat hier? Egon Schay überlegt. „Wie ein Tourist“, sagt er.
Elke Heyduck
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