: Malloth mimt den siechen Greis
Starr sitzt der Angeklagte da und schweigt. Die Zeugen, betagt und gebrechlich, sprechen und kämpfen dabei mit dem Schmerz der Erinnerung
aus München INGA ROGG
Im Konferenzsaal des Gefängnisses München-Stadelheim. Die Zuhörerreihen sind zur Hälfte besetzt, es ist kurz nach 13 Uhr. Ein Polizeibeamter bringt den früheren SS-Mann Anton Malloth in den Saal. Er sitzt in einem Rollstuhl, zwei weiße Kissen geben seinem Rücken Halt und lassen ihn schmal erscheinen. Er trägt einen blauen Anzug, dazu ein helles Hemd und eine dunkle Krawatte – wie schon damals immer elegant. „Der schöne Toni“ wurde Malloth von Gefangenen genannt, weil er so sehr auf sein Äußeres bedacht war, dass er nach der Misshandlung von Häftlingen als erstes seine Uniform in Ordnung brachte.
Es ist der fünfte Prozesstag im Verfahren gegen den Aufseher im Gestapo-Gefängnis „Kleine Festung Theresienstadt“. Malloth muss sich vor dem Münchner Schwurgericht wegen dreifachen Mordes und Mordversuchs verantworten. Ihm wird zur Last gelegt, bei Erntearbeiten auf einem Gut in der Nähe von Theresienstadt im September 1943 einen jüdischen Häftling geprügelt und niedergeschossen zu haben. Ende September 1944 soll er in der Kleinen Festung einen jüdischen Häftling erschlagen und im Winter 1945 den Befehl zum Mord an zwei Häftlingen erteilt haben. Aus Rücksicht auf die Gesundheit des Angeklagten findet die Verhandlung im Gefängnis München-Stadelheim statt.
Hier wird Altsein inszeniert
Einen kurzen Augenblick nur kann man direkt in das Gesicht des 89-Jährigen blicken. Er ist blass, die wächserne Haut mit Altersflecken übersät, die wenigen Haare stehen fedrig vom Haupt. Schmale Lippen fest aufeinander gepresst, links eine tiefe, gallige Falte im Kinn. Der Blick scheint ins Leere zu gehen. Ein Pfleger setzt ihm einen Kopfhörer auf, denn seit dem ersten Prozesstag hört er angeblich schlecht. Dann wendet er seinen Kopf nach vorn. So wird er nun fast die gesamten nächsten zwei Stunden verharren. Mit geringen Variationen ist dies das Bild, das Malloth vom ersten bis zum letzten Prozesstag abgibt.
An diesem fünften Prozesstag steht Albert M. zum ersten Mal nach fast 57 Jahren seinem Peiniger von damals gegenüber. Leicht gebückt, das linke Bein nachziehend, betritt er den Saal. Albert M. stammt aus der Nähe von Prag und ist 80 Jahre alt. Er hatte sich am Widerstand gegen die Nazidiktatur beteiligt und wurde deshalb in der Kleinen Festung interniert. Ruhig und präzise schildert er die Zustände in dem Gefängnis, das ab 1942 als Durchgangslager vor der Vernichtung diente und in dem bis zur Befreiung schätzungsweise 2.500 Menschen ermordet wurden. Auch Namen, Rang und Aufgabe der Aufseher hat er nicht vergessen. Anton Malloth war demnach für die Registrierung der Häftlinge zuständig, die bei den Arbeitskommandos eingesetzt wurden.
An einem Tag Ende September 1944, sagt Albert. M., habe sich ein Gefangener versehentlich nicht rechtzeitig gemeldet. Das habe Malloth so in Rage versetzt, dass er mit einem Holzprügel und seinen Stiefeln so lange auf den Mann einschlug und eintrat, bis dieser kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Albert M. hat alles aus nächster Nähe gesehen, weil er mit ausgestreckten Armen, zwei Ziegelsteine in Händen, im Hof stehen musste. Zur Strafe dafür, dass er versucht hatte, seine Mutter zu sehen, die ebenfalls in der Kleinen Festung interniert war. Behutsam fragt der Vorsitzende Richter, Jürgen Hanreich, nach, folgt ihm auf seinen Erinnerungsspuren, bietet ihm wiederholt Pausen an.
Doch Albert M. will sich nicht schonen. Er berichtet von weiteren Gräueln, von Häftlingen, die von der Folter schwer gezeichnet waren und trotzdem Zwangsarbeit verrichten mussten. „Bitte stellen Sie fest, wer das diesen Menschen angetan hat“, sagt er zum Richter. Der Zeuge schlägt die Hände vors Gesicht, minutenlang kann er nicht weitersprechen.
Malloth hört es und schweigt. Während der gesamten Zeit hat er sich nur einmal mit einem Taschentuch die Nase gewischt, einige schmatzende Mundbewegungen gemacht – ein scheinbar hilfsbedürftiger Greis, nicht mehr ganz von dieser Welt, der Hilfsbereitschaft anderer ausgeliefert. Da hilft es auch nicht, dass ihm drei ärztliche Gutachten am ersten Verhandlungstag Haft- und Verhandlungsfähigkeit bescheinigt haben. Der Richter unterbricht die Verhandlung.
Die Fenster zu einem kleinen Innenhof geben den Blick frei auf den Seitentrakt, in den ein Beamter den Angeklagten gebracht hat. Unverhofft kann man dort seine Verwandlung in einen zwar greisen, aber regen Mann beobachten. Plötzlich kann er ohne fremde Hilfe gehen. Die Hände wie bei einem Spaziergang auf dem Rücken verschränkt, geht er an der Seite seines Verteidigers Ernst-Günter Popendicker den Gang auf und ab. Aufmerksam hört er dem Anwalt zu, der vom Alter her sein Enkel sein könnte. Gelegentlich bleibt er stehen, um etwas zu erwidern. Schlagartig ist das Bild vom siechen Alten weggewischt, man wird zur Zeugin einer Farce: Hier wird das Altsein inszeniert, um Publikum und Gericht milde zu stimmen.
Dem Zeugen versagt die Stimme
Der Zeuge Albert M. leidet bis heute an der Beinverletzung, die ihm ein Wärter im Sommer 1944 zugefügt hat. Zehnmal wurde er operiert, geholfen hat es nur wenig. Trotzdem hat er auch am 7. Verhandlungstag die Reise von Prag nach München auf sich genommen. Mitten in seiner Schilderung steht er auf, geht ein paar Meter zur Richterbank und zeigt dem Gericht seinen malträtierten Unterschenkel. Dann geht er zurück, die Stimme versagt ihm. Die Verhandlung wird unterbrochen. Malloth lächelt kurz, als er hinausgeschoben wird.
Ernst-Günter Popendicker, der über Klaus Göbel, dem Verbindungen zum Nazi-Hilfsverein „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte“ nachgesagt werden, zum Pflichtverteidiger bestellt wurde, ist ein höflicher Mensch. Vielleicht fragt er deshalb an diesem Tag nicht weiter nach. Denn erst in seinem Plädoyer wird er die Verletzung mit Hilfe eines chirurgischen Gutachtens so lange sezieren, bis nur noch eine Schlussfolgerung möglich scheint: Der Zeuge war so schwer verletzt, dass er die ruchlose Tat des Anton Malloth gar nicht beobachtet haben konnte. Wenn er sie doch gesehen hat, dann litt er infolge der fieberhaften Infektion zumindest an Wahrnehmungsstörungen.
Albert M. muss deswegen noch einmal die strapaziöse Reise auf sich nehmen. Nach nur einer halben Stunde steht fest, woran es kaum Zweifel gab: Der Zeuge hat die Wahrheit gesagt. „Unter Todesdrohung“, muss sich der Anwalt zudem vom Sachverständigen belehren lassen, „können Menschen Unvorstellbares aushalten.“ Mit samtener Stimme sagt er aber auch solche Sätze: „Nach allem, was wir gehört haben, wurden wir darin bestärkt, dass so etwas nie wieder passieren darf.“
Jiri K. aus Prag ist 78 Jahre alt. Auf Krücken gestützt, betritt er den Gerichtssaal. Im September 1943 hatte er auf einem Gut in der Nähe von Prag bei der Ernte ausgeholfen. Zur Ernte wurden auch Ghettobewohner und Häftlinge aus Theresienstadt abkommandiert. Dabei wurde er Zeuge, wie SS-Scharführer Malloth auf einen Häftling einprügelte und ihn niederschoss. „Danach hat er ihn einfach liegen gelassen, auch kein anderer kam ihm zu Hilfe“, sagt Jiri K. kaum hörbar. „Alle taten so, als sei nichts geschehen.“ Später erfuhr er, warum der Häftling sterben musste – er hatte einen Blumenkohl versteckt.
Anton Malloth schweigt eisern
Anton Malloth hört auch dem letzten Zeugen ohne besonders auffällige Regung zu. Nach acht Verhandlungstagen kann man in dem starren Gesicht indes die kleinen Veränderungen wahrnehmen. Das Heben der Augenlider, das Wandern des Blicks von der Richterbank zum Staatsanwalt Konstantin Kuchenbauer und zum Publikum, ja selbst zum Zeugen. Die Pose ist nun nicht mehr so sicher wie zu Prozessbeginn, als der 73-jährige Richard L. schilderte, wie Malloth bei einer Mordtat grölend daneben stand.
Es braucht ein kühles Herz, um von den Berichten der Zeugen von damals nicht berührt zu werden. Doch Anton Malloth schweigt eisern. Nur indirekt, über den Psychologen, der seine Geistesfähigkeiten beurteilt, erfährt man mitten im Prozess, was er denkt. Ihm erzählt er Episoden aus seiner Dienstzeit und dass einige Angaben der Zeugen „unsinnig“ seien. Warum er sich nicht äußere, wollte der Gutachter wissen. „Das würde nur zu einem Palaver führen“, antwortete ihm Malloth.
Noch einmal fragt ihn der Richter zum Schluss der Plädoyers, ob er sich äußern wolle. „Ja“, sagt er. Nach einer kurzen Unterredung mit dem Anwalt überlegt er es sich dann aber anders. Richter Hanreich insistiert, fast flehentlich. „Nur zwei Worte“, fährt Malloth mit dünner Stimme fort. „Dass nicht alles in Ordnung war, was hier gesagt wurde.“ Der zweite Halbsatz ist kaum zu hören. Auf Nachfrage gibt sein Anwalt dann diesen Satz zu Protokoll: „Ich wusste, dass nicht alles in Ordnung war, was damals geschah.“ Anton Malloth schweigt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen