: „Kein Krieg gegen Singles“
Interview JENS KÖNIG
taz: Frau Göring-Eckardt, jahrelang galten die Grünen als typische Single-Partei. Jetzt entdecken Sie plötzlich die Kinder. Was ist passiert?
Katrin Göring-Eckardt: Die Grünen sind doch lange keine Single-Partei mehr. Außerdem haben wir mit der Ökologie schon immer Politik für die nachfolgenden Generationen gemacht. Einer unserer Gründungsslogans war: „Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt“. Wir haben da also nichts neu entdeckt.
Bitte? Sie rufen die Grünen als Kinderpartei aus, gründen binnen zehn Tagen gleich zwei Kommissionen, die sich mit diesem Thema befassen, und jetzt sagen Sie, das sei ein alter Hut?
Kein alter Hut, sondern der Versuch, zentrale Gedanken aus der Ökologie auf andere Politikfelder zu übertragen. Was ist gut für unsere Kinder? Diese Frage ist eine Übersetzung des etwas sperrigen Begriffs „Nachhaltigkeit“. Kinder haben mit der Lebenswelt vieler unserer Wähler zu tun. Da muss man nicht erst im Lexikon nachgucken, was Generationengerechtigkeit oder Nachhaltigkeit bedeuten.
Aber warum setzen die Grünen gerade jetzt auf dieses Thema? Haben Sie den Anschluss verpasst? Oder mehr Kinder bekommen?
Die Frage ist doch, wie die Situation der Kinder in der heutigen Gesellschaft ist und wer für sie Partei ergreifen kann. Dazu kommt, dass die Grünen die jungen Wähler wiedergewinnen müssen.
Und da sind Sie und andere junge Leute Ihrer Partei, die sich vor drei Wochen bei Ihnen zu Hause getroffen haben, auf Kinder und Familie gekommen.
Genau. Weil es ein Thema ist, das uns selbst oder Leute in unserem Umfeld im Alltag umtreibt. Viele von uns haben Kinder. Sie gehören ganz selbstverständlich zu unserem Leben. Wir sehen sie nicht als zusätzliche Belastung. Wir wollen Kinder und Beruf verbinden, erleben aber, wie viele andere Familien auch, täglich die Schwierigkeiten, die es dabei gibt.
Sie selbst haben zwei Kinder, neun und elf Jahre alt. Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?
Am Sonntag.
Sie sehen Ihre Kinder die Woche über gar nicht?
Oft nicht.
Belastet Sie das?
Ja. Ich habe oft Sehnsucht.
Ihre Familie lebt in Thüringen. Sie haben in Berlin eine aufreibende 60-Stunden-Woche. Wie leben Sie ohne die Kinder fern von zu Hause?
Ich telefoniere jeden Morgen mit meinen Kindern. Manchmal wecke ich sie, manchmal sie mich. Wir reden jeden Abend miteinander. Oft rufen sie aber auch zwischendurch an. Sie haben ein Problem oder wollen von mir wissen, wo sie zu Hause ihre Flöte oder ihren Turnbeutel liegen lassen haben.
Und Sie haben immer Zeit für Ihre Kinder, auch wenn die Regierung gerade mal wieder in einer Krise steckt?
Ich versuche es. Manchmal rufen die Kinder natürlich auch an, wenn ich gerade keine Zeit habe. Dann verabreden wir uns für später. Wir haben uns daran gewöhnt, auch die wichtigen Sachen am Telefon zu besprechen und sie nicht bis zum Wochenende aufzuschieben.
Ihr Mann macht das so ohne weiteres mit?
Hätten Sie das auch einen männlichen Politiker gefragt?
Offen gestanden nein.
Sehen Sie. Mein Mann kann sich seine Arbeitszeit halbwegs einteilen. Aber ganz ohne Kinderfrau schaffen wir es nicht.
Sie haben nicht das Gefühl, Ihre Kinder zu vernachlässigen?
Nein. Ich bin an ihrem Alltag sehr nah dran. Und meine Kinder wissen: Wenn es etwas Wichtiges gibt, bin ich für sie da. Ich habe kein Problem damit, auch mal eine Vorstandssitzung zu schwänzen, wenn mein Sohn zu Hause ein Konzert hat.
Die sieben grünen Nachwuchspolitiker, die sich bei Ihnen zu Hause getroffen haben – was verbindet Sie, außer der Tatsache, dass die meisten von Ihnen Kinder haben?
Zunächst einmal, dass wir ganz praktisch Politik machen wollen. Wir müssen nicht mehr einer Strömung in der Partei angehören, um ein gemeinsames Anliegen formulieren zu können. Wir sind davon überzeugt, dass Politik mit dem Leben der Leute zu tun haben muss. Und sie muss Spaß machen. Wir dürfen nicht immer so tun, als würden wir das Leid der ganzen Welt auf unseren Schultern tragen.
Das hört sich an wie eine Abrechnung mit den Achtundsechzigern in Ihrer Partei.
Im Gegenteil. Natürlich wollen wir zeigen, dass die Grünen keine Ein-Generationen-Partei sind. Aber wir haben ein strategisches Anliegen: Wir wollen, dass sich junge Familien bei den Grünen wiederfinden, Menschen, die sagen, eine kinderfreundliche Gesellschaft tut allen gut.
Warum sollten sich die mit den Grünen identifizieren?
Weil Kinder zum Leben dazugehören, übrigens egal, ob man selbst welche hat oder nicht. Wenn eine Partei da sagt, sie will, dass die Gesellschaft kinderfreundlicher wird, dass es zwischen den Generationen gerechter zugeht, dann verspricht das für diese Partei doch Erfolg.
Und diese Partei sind die Grünen.
Ja. Wir wollen Kinder bewusst in den Mittelpunkt unserer Politik stellen, die Gesellschaft so verändern, dass sie kinderfreundlicher wird. Dieser Anspruch passt zu keiner anderen Partei so gut wie zu den Grünen.
Warum?
Weil wir einen modernen Gerechtigkeitsbegriff vertreten, der sich nicht darauf beschränkt, die Umverteilung von oben nach unten zu fordern, sondern auch die Rechte der künftigen Generationen im Blick hat.
Die Grünen versuchten sich ein paar Jahre lang vergeblich als Öko-FDP zu profilieren. Dann entdeckten sie sich vor ein paar Monaten als Ökopartei wieder, in der BSE-Krise als Verbraucherschutzpartei und jetzt als Kinder- und Familienpartei. Mit welcher Botschaft ziehen Sie in vier Wochen durchs Land?
Die Kinderfreundlichkeit ist für uns nicht irgendein neues Thema, sondern die Klammer für unsere gesamte Politik. Alle Bereiche, von der Sozialpolitik über die Ökologie, den Verbraucherschutz bis hin zur Finanzpolitik, lassen sich an den Interessen der Kinder ausrichten. Nichts anderes bedeutet Nachhaltigkeit. In all den Fragen, auch bei unserer strikten Haushaltspolitik, geht es immer um Gerechtigkeit – um soziale Gerechtigkeit und um Gerechtigkeit für die nächsten Generationen. Ich glaube, darauf können sich alle in der Partei verständigen: die Jungen und die Älteren, die Realos und die Linken.
Aber ist das nicht ein frommer Wunsch, dass sich plötzlich alle Politikfelder an den Interessen der Kinder ausrichten sollen?
Das glaube ich nicht. Die jetzige Debatte über eine neue Familienpolitik, ausgelöst nicht zuletzt durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Pflegeversicherung, könnte tatsächlich zu radikalen Veränderungen führen. Außerdem hat sich ja seit dem Regierungswechsel schon eine Menge getan: Das Kindergeld wurde erhöht, in der Rentenversicherung wird die Erziehungsleistung schrittweise aufgewertet, durch die Steuerreform werden Familien zusätzlich entlastet.
Aber Familien sind nach wie vor benachteiligt.
Das ist richtig. Deshalb wollen wir ja auch, dass in unserem Steuer- und Sozialsystem die Kindererziehung finanziell gefördert wird und nicht die Ehe. Hier vertreten die Grünen einen offenen Familienbegriff: Familie ist überall da, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen. Überall dort, wo Kinder sind, egal ob es sich um klassische Mutter-Vater-Kind-Familien handelt, um Patchwork-Familien oder um homosexuelle Paare, die Kinder großziehen.
Worauf soll die grüne Wende in der Familienpolitik konkret hinauslaufen?
Es gibt eine ganze Reihe von Maßnahmen, die schnell umsetzbar sind. Die Grünen fordern zur Bekämpfung der Kinderarmut eine Kindergrundsicherung. Sie soll eine zusätzliche Förderung von bis zu 200 Mark pro Kind und Monat bringen. Die Schadstoffgrenzwerte müssen sich an den Kindern und nicht an den Erwachsenen orientieren. Wenn die Schule kostenlos ist, warum soll es dann nicht auch die Kita sein? Hier schlagen wir Gutscheine für die kostenlose Inanspruchnahme einer Kinderbetreuung vor, die man frei wählt.
Hans Eichel wird sich bei Ihnen bedanken. Wer soll denn das bezahlen?
Natürlich wissen wir, dass die Kassen überall leer sind. Aber dann muss man eben andere Prioritäten setzen. Das Ehegattensplitting muss umgewandelt werden und sich auf Kinder beziehen. Bei den Investitionsprogrammen für Ostdeutschland darf eben nicht nur Geld für neue Straßen ausgegeben werden. Da muss mehr an die Kinder gedacht werden.
Parteifreunde von Ihnen haben auch schon die Erhöhung der Erbschaftssteuer verlangt.
Vieles ist denkbar. Aber wir müssen aufpassen, dass nicht der Eindruck entsteht, radikale Kinder- und Familienpolitik bedeutet, den Singles oder den Älteren den Krieg zu erklären. Es geht darum, dass Menschen mit Kindern denen ohne Kinder gleichgestellt werden, dass beide auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft die gleichen Chancen haben. Es geht um Gerechtigkeit.
Ist Deutschland ein kinderfeindliches Land?
Nein, das ist es nicht.
Ein kinderfreundliches Land?
Nein, das auch nicht. Deutschland ist noch kein konsequent kinderfreundliches Land.
Diesen gestelzten Satz würden Ihre Kinder aber nicht verstehen.
Typisch Politiker, würden sie sagen.
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