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Keine Lust auf ein programmiertes Leben

Als der Videorekorder unsere Wohnzimmer eroberte, verloren wir unsere Unabhängigkeit – und viele gute Ausreden

Die Zukunft lässt sich programmieren – teilweise wenigstens und von manchen Leuten. Ich kenne Erwachsene und sogar Kinder, die ihr Haus in dem ruhigen Bewusstsein verlassen können, dass ihr Videorekorder zu dem von ihnen gewünschten Zeitpunkt ein von ihnen gewünschtes Fernsehprogramm aufnehmen wird. Diese Menschen sind von anderer Art als ich. Ich besitze seit 15 Jahren derartige Geräte, und ich habe bis heute nicht gelernt, sie richtig zu bedienen.

Nein, hier soll jetzt nicht dem vielstimmigen Klagechor über allzu komplizierte Gebrauchsanweisungen eine weitere Stimme hinzugefügt werden. Schon wahr: Sie sind schwer zu lesen. Aber ich habe auch andere geistige Probleme bewältigt. Wenn die Geschirrspülmaschine nicht funktioniert, kann ich ganz ungeahnte technische Fähigkeiten entwickeln. Niemals jedoch werde ich die Zeit finden, die Bedienungsanleitung meines Videorekorders zu lesen oder gar zu verstehen – nicht einmal in jahrelanger Einzelhaft käme ich dazu. Ich will einfach nicht. Dafür habe ich gute Gründe.

Handy, Fax, E-Mail und Internet: jede neue Erfindung des Kommunkationszeitalters ist von dem Versprechen seiner Propheten begleitet worden, ein alter Menschheitstraum sei endlich wahr geworden. Die Möglichkeit, von jedem Fleck der Erde aus zu jedem beliebigen Zeitpunkt mit dem Rest der Welt in Verbindung zu treten, habe die alte Abhängigkeit von Zeit und Raum besiegt. Von wegen. Im Zusammenhang mit manchen Geräten dämmert inzwischen den meisten von uns, dass wir hereingelegt worden sind.

Längst ist das Handy vom begehrten Statussymbol erfolgreicher Geschäftsleute zur Knute der Lohnsklaven geworden. Wer permanent erreichbar ist, der ist zumindest theoretisch auch permanent verfügbar und braucht eine gute Begründung, wenn er das gerade nicht sein kann oder will. Seit der Einführung von Fax und E-Mail hat sich auch die Ausrede erledigt, das Schreiben sei unterwegs und müsse wohl auf dem Postweg stecken geblieben sein. All die Neuerungen der letzten Jahre haben uns eben nicht unabhängiger gemacht, im Gegenteil. Der Videorekorder war das erste Gerät, in dem dieses trügerische Versprechen steckte. Und was hat er der Menschheit beschert? Ein schlechtes Gewissen.

Diese wunderbare Kultursendung auf Arte, der preisgekrönte Film über die sozialen Probleme der Südseeinsulaner, das überaus lehrreiche Wissenschaftsprogramm: in fast allen Wohnungen stapeln sich ungesehene Bänder, die einst voll guter Vorsätze aufgenommen worden sind. Wer das interessante Dossier der Zeit nach drei Monaten ungelesen wegwirft, der wird dieses eine Mal mit der bitteren Erkenntnis konfrontiert, offenbar doch weniger bildungshungrig zu sein, als er gerne von sich glauben wollte. Heute hat er dieses Problem, wann immer er Günther Jauch einschaltet, statt eines der schönen, niveauvollen Videobänder anzuschauen.

Ich habe dieses Problem nur sehr selten. Ich kann meinen Videorekorder nicht programmieren. Das ist wunderbar, und so soll es bleiben. Nun höre ich schon den Einwand: Ja, aber es gehe doch nicht nur um Kulturprogramme. Was, wenn ich eben Günther Jauch aufnehmen will? Oder einen Film, den „man“ gesehen haben muss? Für diese Sendungen eignet sich der Videorekorder schon mal gar nicht. Eine Quizsendung ist öde, wenn bereits in allen Zeitungen gestanden hat, dass die Kandidatin sich tatsächlich bis zur Million hochgeraten hat. Den Spielfilm über Vera Brühne habe ich aufgezeichnet – aber ich werde ihn wohl niemals anschauen. In den letzten Tagen musste ich gleich mehrere, ausführliche Diskussionen darüber mitanhören, ohne selber mitreden zu können. Bis ich ihn gesehen habe, ist das Thema durch. Wozu dann noch die Zeit aufwenden?

RTL hat kürzlich „Richie Rich“ gezeigt. Ich habe begeistert vor dem Bildschirm gesessen und mich gekugelt. Das Vergnügen hätte ich zu jeder beliebigen anderen Zeit haben können, und zwar auch noch ohne Werbeunterbrechung. Seit zwei Jahren steht der Film bei mir im Regal. Aber irgendwie hatte ich nie Lust darauf. Fernsehen ist halt trotz der Erfindung des Videorekorders und trotz der Vielfalt der Programme noch immer ein kollektives Erlebnis. In mancher Hinsicht finde ich das tröstlich. Wäre die Überwindung von Zeit und Raum tatsächlich möglich: in letzter Konsequenz würde das zur völligen Vereinsamung des Einzelnen führen.

Es ist übrigens nicht der Sinn dieser Kolumne, den Videorekorder zu verteufeln. Immerhin verdanke ich dem Gerät einige der schönsten Tage meines Lebens. Vor vielen Jahren habe ich mir während eines mehrmonatigen Auslandsaufenthaltes alle Folgen von „Dallas“ aufzeichnen lassen. Zwölf Stunden der eigenen Lieblingssoap hintereinander anschauen zu können: dafür allein hat sich die Erfindung gelohnt. Leider habe ich im Augenblick keine Lieblingssoap.

Fragen zum Fernsehen:kolumne@taz.de

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