Dezent an die Weltspitze

Am Anfang traute sich Schering nicht, die Pille in Deutschland zu verkaufen. Man probierte sie erst mal in Australien aus

von HANNES KOCH

Einen entfernteren Ort für den ersten großen Versuch hätte man sich nicht aussuchen können: die Südsee, Australien. Dort verkaufte der deutsche Schering-Konzern seine erste Verhütungspille Anovlar ab dem 1. Februar 1961. „Wir wollten die Reaktionen zuerst in einer Gegend testen, die in Europa nicht so wahrgenommen wurde“, sagt Werner Dietrich, der damals die Entwicklung und Markteinführung der Pille leitete. Der heute 87-jährige Arzt berichtet, wie der Schering-Vorstand sich jeden einzelnen Schritt genau überlegte. Man war sich der Bedeutung des neuen Präparates bewusst und rechnete mit Protest. Als der in Australien ausblieb, traute das Unternehmen sich ab 1. Juni 1961 auch in Europa, zuerst in Deutschland.

Doch man blieb vorsichtig. Dietrich: „Wir bemühten uns, so dezent wie möglich zu sein.“ In der Packungsbeilage für Anovlar stand ganz oben, es handele sich um ein Mittel gegen Menstruationsbeschwerden – also zu kurze oder lange Zyklen, krampfartige Schmerzen, starke Blutungen. Erst weiter unten wurde die wichtigste Wirkung benannt: „Unterdrückung der Ovulation“, des Eisprungs. Deutliche Begriffe wie „Empfängnisverhütung“ hatte Schering vermieden. Es blieb dem Stern vorbehalten, im Juli 1961 die Revolution auszurufen.

Trotz der Befürchtung, in den spießigen 60er-Jahren möglicherweise in die gesellschaftliche Defensive zu geraten, fühlte sich Werner Dietrich als Mediziner moralisch im Recht. Als Assistenzarzt hatte er 1937 in der Frauenklinik der Berliner Charité gearbeitet und dort miterlebt, wie Patientinnen nach ihrem Besuch bei der „weisen Frau“ eingeliefert wurden. Lebensbedrohliche Infektionen waren nach den illegalen Abtreibungen, die meist unter abenteuerlichen Bedingungen durchgeführt wurden, an der Tagesordnung. Einen Ausweg aus der Sackgasse „des kriminellen Abortes“ zu bieten, war auch noch in der neuen Bundesrepublik die wesentliche ethische Motivation derjenigen, die sich für Verhütung engagierten.

Im Falle von Schering kam ein weiterer Grund hinzu: Der Konzern verfügte schon über jede Menge Knowhow mit anderen Hormonpräparaten und sah deshalb die Chance, sich als eine der ersten Firmen eine starke Marktposition in der Fertilitätskontrolle aufzubauen.

Das hat funktioniert: Von Anfang an gehörte der in Berlin ansässige Konzern zu den Marktführern nicht nur in Europa, sondern weltweit. Mit „oralen Kontrazeptiva“, wie die Pillen wissenschaftlich heißen, verdiente die Firma im Jahr 2000 rund 1,2 Milliarden Mark, was einen Anteil von etwa 13 Prozent des Konzernumsatzes ausmacht. In Europa und Japan liegt das Unternehmen mit einem Marktanteil von rund 30 Prozent unbestritten an der Spitze. Um die Führerschaft auf dem Pillen-Weltmarkt konkurriert man allerdings auch heftig mit den Pharmariesen Johnson & Johnson sowie Akzo Nobel.

Der Protest blieb aus

Wider Erwarten blieb in den 60er-Jahren der Sturm der Entrüstung auch in Deutschland aus. Als Unternehmen geriet Schering kaum in die Kritik. Auf Kongressen hielten sich die Ärzte an die wissenschaftliche Debatte. Die meisten versuchten, die moralischen Tabus nicht noch zusätzlich zu verletzen. Eine Ausnahme bildete die „Ulmer Denkschrift“, in der 140 Ärzte und 45 Uni-Professoren vor der „Bedrohung der biologischen und charakterlichen Substanz unseres Volkes“ warnten.

Werner Dietrich fühlte sich von den meisten Gynäkologen-Kollegen in seinem Tun bestärkt. Und der Konzern wurde mutiger. Nachdem man Anovlar zunächst nur in ausgewählten Praxen beworben hatte, wurde die Pille ab 1962/63 bei allen Frauenärzten bekannt gemacht.

Später nahm die Diskussion dann doch noch an Heftigkeit zu. Viele Frauen hatten die Pille einige Zeit geschluckt, und es stellten sich unerwünschte Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen und Brustziehen ein – unter anderem wegen des hohen Gehalts des Hormons Östrogen. Ein großes Thema ist bis heute das gesteigerte Risiko, an Thrombosen zu erkranken. So sah sich die Firma gezwungen, die chemische Zusammensetzung ihrer Verhütungsmittel schnellstens zu ändern. Während Anovlar noch 50 Millionstel Gramm Östrogen enthielt, reduzierte man die Dosierung in den folgenden Generationen des Verhütungsmittels ganz erheblich. 1973 kam das erste, „Mikropille“ genannte, Präparat auf den Markt, das weniger als 30 Millionstel Gramm aufwies. Die heutigen Minipillen kommen mit zwei Drittel dieser Menge aus.

Irgendeine Form der Zurückhaltung erlegt sich der Konzern heute nicht mehr auf. Gerade ist Schering dabei, „Yasmin“, eine Pille, die Wassereinlagerungen und damit die Gewichtszunahme gering hält, in den USA einzuführen – einem bislang eher weißen Fleck auf der Schering-Landkarte. Business as usual – die Zeit der sexuellen Kulturrevolution liegt lange zurück.