: Opfer verklagen die Bahn nach Unglück
Hinterbliebene von Eschede fordern Schadenersatz. Vorwurf: Bahn setzte nicht erprobte Radreifen ein
HANNOVER taz ■ Beinahe zwei Jahre lang und ohne Erfolg hat die „Selbsthilfe Eschede“ mit der Deutschen Bahn AG Gespräche über Schmerzensgeld und Schadenersatz geführt. Gestern nun strengte die Interessengemeinschaft der Betroffenen der ICE-Katastrophe, die vor drei Jahren 101 Todesopfer forderte, eine Klage vor dem Berliner Landgericht an. Sechs Hinterbliebene, die bei dem Unglück am 3. Juni 1998 Angehörige verloren haben, verlangen Schmerzensgeld von jeweils mindestens 250.000 Mark.
Die Bahn zahlte bislang an die jeweils nächsten Angehörigen der Todesopfer freiwillig 30.000 Mark aus. Ein höheres Angebot durch die Bahn habe es nicht gegeben, so Heinrich Löwen von der Selbsthilfe Eschede. Unter den sechs Klägerinnen und Klägern befinden sich auch Kinder von Todesopfern, die selbst bislang kein Schmerzensgeld erhalten haben.
Der Berliner Rechtsanwalt Reiner Geulen, den die Selbsthilfe aus einem von ihr eingerichteten Prozessfonds engagiert hat, reichte gestern zusammen mit der Klage auch eine Strafanzeige gegen den ehemaligen Technikvorstand der Bahn AG, Roland Heinisch, und den Ex-Bahn-Chef Heinz Dürr ein, die 1992 über die Einführung der gummigefederter Radreifen bei ICE-Hochgeschwindigkeitszügen entschieden haben.
Anwalt Geulen stützt seine Schriftstücke auf die Gutachten und die Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft Lüneburg, die seit drei Jahren die für die Katastrophe Verantwortlichen aufzuspüren sucht. Das Unglück bei Eschede wurde unstreitig durch den Bruch eines gummigefederten Radreifens ausgelöst. Laut Anwalt Geulen war der Bahn AG „von vornherein bekannt, dass die Verwendung dieser Gummireifen mit einem erheblichen Bruchrisiko verbunden war“. Die Techniker der Bahn hätten bei der Einführung der Radreifen vergeblich eine sechsmonatige Erprobungsphase mit intensiver Kontrolle verlangt, heißt es in der 66-seitigen Klage des Anwalts, der nach eigenen Angaben auch 66 Hinterbliebene von mehr als 50 Todesopfern des Unglücks vertritt. Der Vorstand habe jedoch laut internen Bahnpapieren wegen „des kommerziellen Erfolges des ICE“ den Einsatz der Räder ohne Erprobungphase veranlasst. Entgegen der Warnungen von Technikern und Wissenschaftlern seien dabei keine wirksamen Kontrollen beim Verschleiß der Räder eingeführt worden. Der bei Eschede geborstene Radreifen habe mehrere große Risse und Brüche enthalten, die nach Angaben von Sachverständigen bereits ein halbes Jahr vor dem Unglück sichtbar gewesen seien. Erst nach dem Unfall habe man entdeckt, dass weitere Züge der gleichen Serie ebenfalls mit defekten Radreifen unterwegs waren. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg ermittelt wegen des Unglücks inzwischen nicht mehr gegen die Vorstandsebene der Bahn. Das Verfahren richtet sich gegen zwei Ingenieure des Herstellers der Radreifen und zwei ehemalige Mitarbeiter des Bundesbahnzentralamtes in Minden, das für die Zulassung der Räder verantwortlich war.
JÜRGEN VOGES
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