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„Extremsportler hängen am Leben“

Gert Semler empfindet es als äußerst lustvoll, alle seine Potenziale zum Leben zu erwecken. Ein Gespräch mit dem Psychologen über die Lust an der Angst und die Suche nach Spannung

Das Absurde ist, dass die Angst in den Augenblicken, in denen man sich mit ihr auseinander setzt, verschwindet. Wer extreme Situatio- nen überwindet, gewinnt an Sicherheit

taz: Sie haben das Buch „Die Lust an der Angst“ geschrieben. Warum kann Angst Lust vermitteln?

Gert Semler: Das Lustvolle an der Auseinandersetzung mit extremen Herausforderungen ist die Entwicklung, die dabei stattfindet, das ständige Reflektieren. Man geht immer weiter, ist immer mehr, besser in der Lage, auch schwierige Situationen zu meistern. Ich empfinde es als äußerst lustvoll, meine Potenziale zum Leben zu erwecken und zu schauen, was habe ich bisher noch nicht gelebt, was kann ich entwickeln.

Weshalb sucht man Grenzsituationen?

Bei vielen Menschen geht es darum, dass sie lernen wollen, mit ihrer Angst umzugehen, gerade im Alltag. Ein Bekannter, mit dem ich lange Zeit Fallschirm gesprungen bin, der berufsmäßig auch noch Feuerwerker war, hatte ein panische Prüfungsangst. Er wollte lernen, damit umzugehen. Wir leben in einer Zeit, in der wir viel mit Ängsten zu tun haben. Wir wollen in Extremsituationen lernen, besser gerade mit den Alltagsängsten umzugehen.

Ist das eine bewusste Entscheidung?

Bei den meisten Menschen ja. Ich persönlich wollte Angst spüren, weil ich mich in Alltagssituationen sehr kontrolliert erlebt habe, sehr beherrscht, und Angst sehr wenig zulassen konnte. Deshalb habe ich mit dem Fallschirmspringen begonnen. Wenn man aus einem kleinen Flugzeug aus 700 Metern Höhe mit dem Fallschirm springt, führt kein Weg an der Angst vorbei. Man muss hinausklettern, sich an der Tragfläche festhalten, steht mit beiden Beinen auf einem Podest oberhalb eines Rades. Das hat etwas völlig Absurdes. Man denkt, was bringt es, aus einem fliegenden Flugzeug hinauszusteigen, sei froh, dass es fliegt. Dann dachte ich, das ist jetzt der falsche Zeitpunkt, um das zu klären, das hast du unten entschieden. Ich habe mir das ein Dreivierteljahr überlegt.

Was ist das Ziel solcher Erfahrungen?

Konzentration und Intensität. Für mich macht es keinen Unterschied, ob ich als Kind eine Uhr auseinander nehme und die Räder vor mir habe, oder ob ich körperliche Grenzen überwinde. Es ist das Faszinosum, mit Dingen zu tun zu haben, die völlig neu sind und mich in Spannung halten. Das Gemeinsame ist die hohe Konzentration. Wenn Sie Kindern zuschauen, die sich mit etwas beschäftigen, was neu und fremdartig ist, sehen Sie, da ist kein Platz mehr für die Umgebung. Die Kinder sind in der Wahrnehmung, im Verstehen, im Begreifen dessen, was da passiert, völlig konzentriert. Etwas ganz Ähnliches passiert beim Extremsport. Wenn Sie mit 200 Stundenkilometern herunterdonnern, haben Sie keine Zeit mehr, über irgendein Alltagsgeschehen nachzudenken, über den Kontoauszug, über den Ärger mit irgendjemandem. Man sucht dieses Gefühl von Einheit in einem kurzen Moment, nicht das Zerrissensein im Alltag.

Der Preis, den man zahlt, ist die Angst?

In gewisser Weise. Das Absurde dabei ist, dass die Angst in den Augenblicken, in denen man sich mit ihr auseinander setzt, auch verschwindet. Wenn man extreme Situationen überwindet, gewinnt man an Sicherheit.

Will man in Grenzsituationen auch etwas über den Tod erfahren?

Nein. Das Sterben ist jedem, der sich in Grenzsituationen bewegt, immer präsent, aber nur als das, was man nicht will. Es gibt absurde Versuche, Extremsport über die Todessehnsucht zu erklären. Alle Extremsportler, die ich bislang kennen gelernt habe, hängen am Leben. Alles, was sie tun, dient dazu, ihre Fähigkeiten immer weiter zu entwickeln, um dafür zu sorgen, dass sie das, was sie besonders gern tun, noch besonders oft machen können. Und hinter extremen Herausforderungen steckt das Bedürfnis, diese Situation zu kontrollieren. Das hat etwas mit Macht zu tun.

Springt deshalb Jürgen Möllemann Fallschirm?

Menschen wie Jürgen Möllemann sind prozessorientiert. Ihnen macht es Spaß, sich in Situationen zu bewegen, die schwierig sind, und in diesen Situationen nach neuen Lösungen zu suchen. Diese Leute brauchen die Spannung.

INTERVIEW: HUBERT FILSER

Gert Semler, 52 Jahre, war klinischer Psychologe, danach hatte er eine Forschungsarbeit im Max-Planck-Institut für Psychiatrie. Seit 1990 ist er als selbstständiger Berater und Trainer für Wirtschaftsunternehmen tätig.

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