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Freiheit der Erkenntnis

Die Präimplantationsdiagnostik stellt nicht das Recht auf Leben für Behinderte in Frage. Aber sie ermöglicht, etwas gegen den Zufall zu tun, der krank machen kann

Ein paar Zellen mit so viel Bewusstsein wie ein Hefeteig genießen nicht den Schutz des Grundgesetzes

Stellen wir uns vor, ein Provinzbischof oder gar der Papst hätte alle Katholiken aufgefordert, an jedem Freitag auf den Geschlechtsverkehr zu verzichten (wegen Jesus oder was auch immer man dort für eine Begründung hält). Statt dass nun das Wenige passiert, was normalerweise auf Bischofsworte folgt, füllten sich in den nächsten Monaten diverse Domplätze mit Massen von Demonstranten. Die Protestierer, angeführt vom Hubert Hüppe (CDU), sind „Betroffene“, denn alle sind sie an einem Freitag gezeugt worden. Sie selbst – und etwa 15 Prozent der Bevölkerung! – wären nicht auf der Welt, wenn der Vorschlag des Kirchenmannes schon zu ihren Zeiten befolgt worden wäre: Sie fühlen sich in ihrem Recht auf Leben bedroht.

Diese Demonstrationen gibt es natürlich nicht, wohl aber MdB Hüppe. Er protestiert allerdings nicht gegen seine Freitagszeugung, sondern für das Lebensrecht Behinderter. Wo auch immer sich eine Möglichkeit andeutet, ein solches Kind nicht zur Welt bringen zu wollen, meldet er sich – und setzt die bloße Diskussion derartiger Überlegungen mit Genozid gleich.

Ich will hier keine Witze machen auf Kosten anderer: Hubert Hüppe hat einen Sohn, der behindert ist. Das tut mir Leid (und ich weiß, wovon ich rede). Das Problem, das ich mit seinem Vater habe, ist, dass er diese Tatsache der Behinderung für ein ausreichendes Argument hält: Ob Präimplantations- oder Pränataldiagnose – den armen Jungen würde es nicht geben.

Er wäre allerdings auch nicht auf der Welt, wenn seine Erzeuger an einem gewissen Abend beschlossen hätten, nicht ins Bett zu gehen, sondern sich „La Traviata“ anzusehen. Müsste man jetzt nicht gegen italienische Opern protestieren?

Vielleicht ist Logik nicht jedermanns Sache; doch die Eventualitäten einer Zeugung zum Bestandteil einer Argumentation zu machen, ist – logisch betrachtet – Unsinn. Es ist Spekulation etwa in der Art von: Hätte Mama einen anderen geheiratet, dann wäre ich nicht auf der Welt. Bin ich also gegen jede andere Beziehung, die meine Mutter hätte eingehen können?

Von zu vielen Faktoren hängt der Zufall der eigenen Geburt ab: In der n-ten Vorfahrengeneration muss es bei 2[n]Personen unabhängig voneinander geklappt haben, oder es gibt mich nicht. Ich kann es als Wunder oder Geheimnis ansehen – das wissenschaftliche Fazit lautet: Die Wahrscheinlichkeit meiner Existenz, wollte ich sie so berechnen, läge bei null. Das zweifelhafte Privileg von „Betroffenen“ und Behindertenvertretern besteht darin, einen einzelnen Faktor herausgreifen und bewerten zu wollen.

Dabei bezweifele ich nicht Leidensdruck oder guten Willen: Mein Problem in der ganzen Diskussion über Biotechnik ist, dass wissenschaftliche Argumente und logische Schlüsse keine Rolle spielen. Das zum Beispiel von Hans Jonas schon 1974 genannte Argument, der Klon sei als Kopie eines anderen seiner individuellen Freiheit beraubt, klingt zwar markig, ist aber reines Feuilleton, weil ein Klon sich nur durch beliebige und zeitversetzte Reproduzierbarkeit von einem eineiigen Zwilling unterscheidet. Also müsste die angebliche Freiheitsberaubung auch für diesen gelten – auf was liefe das hinaus? Dass der Tod von Elvis Presley durch seinen bereits bei der Geburt gestorbenen Zwillingsbruder Aaron präjudiziert sei?

Im Kern wird die Position von Hüppe und anderen dadurch gekennzeichnet, dass sie den Wert des Lebens absolut setzt. Diese Haltung ist parteiübergreifend zu finden und hat zur Folge, dass das Embryonenschutzgesetz selbst den Konflikt mit der Natur nicht scheut: Den Schutz des Grundgesetzes genießt sogar die befruchtete Eizelle; dabei endeten schon immer unzählige davon im spontanen Abort – auch ohne Spirale –; sie hatten sich in der Gebärmutter nicht einnisten können. Im angelsächsischen Recht gilt vernünftigerweise, diese „Nidation“ nicht die Befruchtung als den Beginn einer Schwangerschaft festzulegen.

Wie kommt es zu der Annahme, es gebe ein so selbstverständliches Recht auf Leben? Indem ich lebe, so die geläufige Argumentation, werde das Leben de facto „bejaht“: endlich einmal eine Norm, die von niemandem in Zweifel gezogen werden könne. Das Leben erscheint als der letzte „positive“ Wert und sei durch nichts zu relativieren.

Dagegen lässt sich tatsächlich nichts sagen, und genau darum ist es auch kein Argument, sondern entweder die neutrale Zustandsbeschreibung eines Lebewesens, das lebt – oder aber eine verdeckte religiöse Norm: „Leben“ als „Geschenk“, das niemals zurückgewiesen werden darf. Das Leben als Wert ist jedoch ein naturalistischer Fehlschluss: Aus der Tatsache, dass etwas ist, kann niemals gefolgert werden, dass es auch so sein soll.

Das „Recht auf Leben“ ist in den verschiedenen Verfassungen im Laufe der Geschichte auch nicht aus religiösen Gründen in den Grundrechtekatalog aufgenommen worden. Es ging dabei weniger um das Leben als solches, sondern um den Schutz autonomer Personen. Mit anderen Worten, man will unter anderem verhindern, dass jemand aufgrund seiner Meinung totgeschlagen werden darf – auch nicht für den Satz: Die Absicht des Grundgesetzes war keineswegs, ein paar Zellen, die so viel Bewusstsein haben wie ein schön aufgegangener Hefeteig, zum gleichberechtigten Subjekt der Verfassung zu machen.

Hätte Mama einen anderen geheiratet, gäbe es mich nicht: Nach dieser Logik funktionert oft die Diskussion

Aber auch wenn das Leben von befruchteten Embryonen nicht „an sich“ geschützt ist: Der Staat hätte sehr wohl ein Recht, bestimmte Formen der pränatalen Diagnostik zu verbieten. Das „Kind nach Wunsch“ könnte schon allein deshalb als Rechtsanspruch ausfallen, wenn alle Eltern à la chinoise nur noch Jungs in die Welt setzen möchten. Kein Land der Welt kann es sich erlauben, dabei zuzusehen, wie sich seine Bevölkerung munter dezimiert oder allen Babys rosa Haare wachsen lassen möchte.

Gegner der Präimplantationsdiagnostik nehmen Behinderungen bewusst in Kauf. Eines ihrer Argumente: Behinderung sei sowieso nur eine „soziale Konstruktion“ – als könnte der Lahme wieder laufen, wenn ich mir nur den hässlichen Gedanken an Gesundheit aus dem Kopf schlüge! Auch wenn wir ihn voll und ganz respektieren, leidet der Behinderte an uns in dem Maße, wie ihm sein Anderssein klar wird – und wir mit ihm. Ein oder zwei Chromosomen nur, und er säße nicht in diesem Rollstuhl. Gerade weil der Zufall, der mich gesund und ihn krank gemacht hat, nun ein winziges Stück vorhersehbarer geworden ist, kann ich die Frage, ob ein solches Schicksal vermeidbar ist, nicht zurückweisen: Allein dadurch, dass diese Chance existiert, werden sich Eltern der dadurch möglich gewordenen Verantwortung stellen und haben ein Recht darauf.

Ob man wissenschaftlichen Erkenntnissen vertrauen möchte oder nicht, ist sicherlich jedermanns Privatsache. Ihre Anwendung allgemein zu verbieten erfordert jedoch nachvollziehbare Begründungen. Wer stattdessen nur „Leben, Leben über alles“ setzt, macht sittliche Autonomie zu einem sekundären Wert und vergreift sich an der Würde des Menschen. BERNHARD BECKER

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