: Abenteuer „Groundhopping“
Sammelleidenschaft im fortgeschrittenen Stadium: Groundhopper haben sich zum Ziel gesetzt, so viele Fußballstadien wie möglich zu besuchen – überall in der Welt. Im regulären Jahresurlaub lassen sich solche Trips allerdings kaum unterbringen
von MARTIN KALUZA
Er war mehr oder weniger ins Blaue hinein losgefahren, aber das Baltikum hat es Michael Seiß gleich beim ersten Besuch angetan. Er war völlig überrascht, was Riga und Vilnius für interessante Städte sind. Der Trip ins Unbekannte hatte sich gelohnt. „Allerdings“, fügt der Bochumer hinzu, „wäre ich nie auf die Idee gekommen, wenn ich da kein Fußballspiel angucken könnte.“
Fünf Länder hat Seiß in den 14 Tagen Urlaub besucht – und elf Fußballspiele. Rechnet man die Reisen der letzten 16 Jahre zusammen, dann hat sich Seiß bereits in 750 verschiedenen Stadien und 33 Ländern Fußballspiele angesehen. Groundhopping nennt man das, und damit ist nicht gemeint, dass sich jemand im Urlaub mal ein Spiel ansieht, das zufällig in der Nähe stattfindet – der Groundhopper fährt zu den Fußballspielen (bevorzugt in Stadien, die er noch nicht kennt) und sieht sich dann bei der Gelegenheit vor Ort ein wenig um. Wenn er die Zeit dazu hat.
Michael Seiß, Jahrgang 1968, ist eigentlich erst relativ spät zum Fußball gekommen. Aber als ihn seine Kumpels mit 16 erst ins Stadion der SG Wattenscheid 09 und bald auch zu Auswärtsspielen geschleift hatten, leckte er Blut und sah sich auch „neutrale“ Spiele an. Ohne einen Stammverein, ohne den Weg über zähe Unentschieden bei peitschendem Regen im Fanblock und ohne Begeisterung für Stadiongesänge und das Spektakel auf den Rängen wird niemand zum Hopper. Man kann nicht sagen, „diesen Urlaub gehe ich mal Groundhoppen und nächstes Jahr fahre ich dann wieder Ski“. Wer mit dem Herzen dabei ist, fährt durchaus mal nach Island, um sich dort Zweitligapartien anzusehen, und der England-Trip am zweiten Weihnachtstag steht fest im Kalender – da kann man an einem Tag gleich zwei Spiele sehen.
Der typische Groundhopper zeigt in der Regel alle Symptome von Sammelleidenschaft im fortgeschrittenen Stadium. Er dokumentiert seine Stadionbesuche anhand von Eintrittskarten, führt minutiös Buch und hat es sich mitunter zum Ziel gesetzt, die Sammlung in einem bestimmten Teilbereich möglichst komplett zu haben. Der eine nimmt sich vor, in möglichst vielen europäischen Erstligen alle aktuellen Spielstätten gesehen zu haben, der andere beschränkt sich auf Deutschland, muss dafür aber alle Kreisklassenplätze einmal gesehen haben. Eine Sysiphosarbeit.
HSV-Fan Carlo Farsang hat es inzwischen zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Der ungekrönte König der Groundhopper hat einmal seinen Wohnsitz für ein paar Monate nach Südamerika verlegt, um die Spiele auf dem Subkontinent besser erreichen zu können. Ein andermal ist er mit dem Fahrrad von Niger aus über Burkina Faso nach Mali gefahren – nicht ohne sich das Derby Sahel SC Niamey–Old Niamey, das Länderspiel Burkina Faso–Mali und zwei weitere Begegnungen anzusehen. Außerdem hatte Farsang als erster Groundhopper Spiele in allen europäischen Ländern gesehen. Auch das ist nicht zu unterschätzen: Immerhin zählt die Uefa derzeit 50 Mitgliedsverbände, unter anderem Länder wie die Faröer Inseln und Weißrussland.
Solche Trips lassen sich im regulären Jahresurlaub allein nicht unterbringen. Auch bei weniger extremen Hoppern sind Gewalttouren durch vier Länder übers Wochenende nichts Spektakuläres mehr. Und sie bringen Entbehrungen mit sich: Groundhopper sind Experten im Low-Budget-Reisen, das Verhältnis zwischen Hopping und geregelter Arbeit wird zum Spagat, und die sozialen Kontakte leiden.
„Ich habe halt meinen Scheißjob im Einzelhandel“, sagt Seiß fast nebenbei. Und auch sein Liebesleben hat er dem Fußball untergeordnet. Bis vor drei oder vier Jahren hat sich Michael Seiß selbst noch für völlig beziehungsunfähig gehalten, doch in einem Punkt kann er künftigen Partnerinnen Entwarnung geben: „Wenn ich eine Frau hätte, würde ich sie nicht damit nerven, Fußballübertragungen zu gucken – für mich zählt Fußball nur als Live-Erlebnis.“ Seiß schätzt, dass es in Deutschland vielleicht um die hundert ernsthafte Groundhopper gibt. Jörg Heinisch peilt in seinem Buch „Abenteuer Groundhopping“ mit 300 etwas großzügiger über den Daumen.
Ob jemand überhaupt ein richtiger Groundhopper wird, stellt sich sowieso erst mit den Jahren heraus. „Man muss schon eine Weile dabei sein“, erklärt Seiß, „und einige werfen eben das Handtuch, wenn sie ein paar Mal hintereinander vor verschlossenen Stadiontoren stehen oder ein paar schlechte Spiele am Stück sehen.“ Eine gewisse Opferbereitschaft gehört schlichtweg dazu.
Im Oktober 1996 hatte Seiß so eine Tour erwischt. Nach dem Softeis, das er sich für die letzten Münzen in Rumänien auf dem Bahnhof gekauft hatte, konnte er sich fünf Tage nicht weiter als ein paar Armlängen von der nächsten Toilette entfernt aufhalten. Noch im Nachtzug nach Budapest packte ihn das Fieber. Das hielt ihn nicht davon ab, ein Heimspiel in Györ zu besuchen, wo im ganzen Stadion kein Papier aufzutreiben war – er musste auf seine Socken zurückgreifen. Als er schließlich am nächsten Tag plangemäß in Kroatien ankam, war der komplette Spieltag um eine Woche nach hinten verlegt worden – das ausgerechnet, als in Zagreb Croatia gegen Hajduk Split hätte spielen sollen. Ein Debakel auf allen Linien.
Seiß hat sich nach dem Trip erst einmal ein paar Tage an den Schreibtisch gesetzt und zur Entspannung am „Groundhopping-Informer“ gearbeitet. Natürlich ist er dann am nächsten Wochenende doch wieder nach Zagreb gefahren, um sich das Spitzenspiel gegen Split anzusehen – und wo er schon mal dabei war, hat er noch einen Schlenker über Rumänien, Tschechien und Ungarn gemacht.
„Natürlich muss man da seinen inneren Schweinehund überwinden“, räumt Seiß ein. Sich nicht entmutigen lassen. Schließlich gibt es noch viel zu sehen in der Welt: In Indien würde er nur zu gerne einmal das Derby in Kalkutta sehen; auch in Teheran gibt es so einen Klassiker. Der Normalbürger mag nur den Kopf schütteln. „Die Welt“, sinniert Michael Seiß, „hat mehr Grounds als das menschliche Leben Tage.“
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