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Madonna in Altenburg

Claudia Roth und Fritz Kuhn auf einer trostlosen Reise durch die Wüste Thüringens. Überall nur Schwaben und Schweigen

von JENS KÖNIG

Man könnte die Geschichte so beginnen: Als Claudia Roth und Fritz Kuhn in Leipzig aus dem Zug steigen, ist der Erste, der ihnen auf ihrer Reise durch Ostdeutschland in die Arme läuft, ein Schwabe. Ausgerechnet. Ludwig Berthold, der Chef des Kreisbauernverbandes im Altenburger Land, ist vor zehn Jahren aus Baden-Württemberg nach Thüringen gezogen. Jetzt steht er im karierten Sakko auf dem Leipziger Hauptbahnhof und begrüßt die grünen Parteivorsitzenden mit offenen Armen. Lernen Roth und Kuhn daraus, dass nicht nur ihre Parteizentrale in Berlin, sondern jetzt sogar schon der Osten von Schwaben unterwandert ist?

Man könnte die Geschichte auch so beginnen: Roth und Kuhn wollen lernen. Sie sind nach Thüringen gekommen, um ihren Gesprächspartnern zuzuhören. Aber gleich auf der ersten Station ihrer Reise, im Gemeindezentrum „Kleiner Jordan“ in Altenburg, beginnt Fritz Kuhn erst einmal zu reden. Er hält einen Vortrag über die grüne Agrarwende in Berlin. „Grüß Gott!“, schmettert Kuhn seinen Gastgebern fröhlich entgegen. Die Bauern im Saal gucken etwas irritiert. Gott hat sich hier in Altenburg schon lange nicht mehr blicken lassen.

Man könnte die Geschichte auch einfach mit Ingo Prehl anfangen: 29 Jahre alt, gelernter Bergmann, Rechtsreferendar in Zwickau, Grüner. Genauer gesagt einer von 15 Grünen im ganzen Landkreis Altenburg. 15 Grüne auf 120.000 Einwohner. Prehl ist ein Idealist.

Das muss man auch sein, sagt er, wenn man in einer Partei mitarbeitet, die die meisten Ostdeutschen für die Schuldigen halten, dass ein Liter Benzin 2,30 Mark kostet. Monatelang hat Prehl dafür geackert, dass die beiden Parteichefs aus Berlin auf ihrer Reise durch Thüringen auch nach Altenburg kommen. Der Besuch soll ein Hoffnungsschimmer sein für die paar versprengten Grünen hier im Kreis.

Jetzt, wo Roth und Kuhn da sind, rennt Prehl den ganzen Tag mit dem Fotoapparat neben ihnen her. Roth und Kuhn auf einem Ökobauernhof in Schwanditz. Klick. Roth und Kuhn vor der Kraterlandschaft des ehemaligen Wismut-Bergbaus. Klick. Prehl hält alles für die Ewigkeit fest. Es ist ein historischer Tag. Als wäre Madonna in der ostdeutschen Provinz zum Konzert gelandet. Prehl ist der Groupie.

Es wäre vielleicht besser, man ließe die ganze Geschichte gar nicht richtig beginnen. Jeder Anfang läuft zwangsläufig darauf hinaus, auf ein paar Zeilen schon alles zu erzählen: Die Fahrt von Claudia Roth und Fritz Kuhn nach Thüringen ist eine trostlose Reise. Die Tour durch eine Wüste. Die Odyssee einer Westpartei durch den Osten. Das Übliche.

Zehn Jahre lang haben die Grünen im Osten ziemlich viel falsch gemacht. So falsch, dass der Bundesvorstand irgendwann im vorigen Jahr beschloss, im Osten quasi von vorn anzufangen. Fahrten der Parteispitze in das unbekannte Land sollen helfen zu verstehen, worüber man überhaupt redet, wenn man vom Osten und den Grünen dort spricht.

Für diese trostlose Geschichte von der Thüringen-Reise ist es wohl das Beste, wenn man mittendrin einsteigt. Es ist möglicherweise der einzige Weg, ihre ausgetretenen Pfade zu verlassen und zu zeigen, dass die Sache mit Ostdeutschland und den Grünen noch viel komplizierter, aber trotzdem nicht unbedingt hoffnungslos ist.

Also mittendrin in der Geschichte sitzen Roth und Kuhn auf einer Holzbank im Jugendzentrum „East-Side“ in Altenburg. Laut Programmplan sollen die beiden Parteivorsitzenden mit Jugendlichen darüber diskutieren, ob die Jugend im Osten eine Zukunft hat. Gute Frage. Die Jugend im Osten sitzt der Parteiführung aus Berlin auf Holzbänken gegenüber und guckt sie an.

Altenburg ist typisch für viele ostdeutsche Städte: Viele junge Leute bekommen zu Hause keine Lehrstelle und keinen Job und gehen in den Westen. Altenburg hatte vor zehn Jahren 56.000 Einwohner, heute sind es nur noch rund 40.000. Weggegangen sind fast ausschließlich die Jungen. Erzählen wollen sie im Jugendzentrum davon nicht so richtig. Vielleicht haben die Jugendlichen noch nie in ihrem Leben Grüne gesehen.

Kuhn überbrückt die Stille mit einem routinierten Vortrag über regionale Infrastruktur und Technologietransfer.

Kollektives Schweigen.

„Was erwartet ihr von der Politik?“, versucht Kuhn die jungen Leute zu locken, „was stinkt euch an?“ Schweigen. Kuhn guckt leicht genervt. Dämmert ihm, dass die Jugendlichen von der Politik vielleicht gar nichts erwarten und von den Grünen noch weniger?

Die Parteichefs merken, dass das so nichts wird. Sie nehmen sich kleine Camping-Klappstühle und setzen sich direkt zu den Jugendlichen. Langsam kommt ein Gespräch in Gang. Kuhn versucht es noch einmal mit einem seiner Lieblingsthemen dieser Reise: der Bedeutung „weicher“ Standortfaktoren für den wirtschaftlichen Aufschwung einer Region – kulturelles Angebot, Kinderbetreuung für junge Familien, Sicherheit für ausländische Mitbürger.

„Habt ihr denn hier Probleme mit Ausländern?“, fragt Kuhn zwei junge Männer.

„Nö“, antworten sie.

Aber das mit der Ausländerfeindlichkeit in Deutschland finden sie total aufgebauscht. „Wenn sich zwei Deutsche prügeln, dann ist das eine normale Rangelei“, sagt einer. „Wenn ein Deutscher einem Schwarzen eins in die Fresse haut, ist das immer gleich Rassismus.“

Kuhn und Roth überlegen kurz, was sie erwidern sollen. „In Deutschland sind im letzten Jahr über 120 Menschen von Rechten umgebracht worden“, sagt Claudia Roth. „Wissen Sie, was mich anstinkt?“, fragt einer der jungen Männer zurück. Er trägt kurz geschorene Haare und eine Lonsdale-Jacke. Wie die meisten hier. „Dass die Rechten immer nur als besoffene Schläger dargestellt werden. Als Linker, als Punk wirst du vom Staat geschützt.“

Die grünen Parteichefs sind im Jugendzentrum East-Side in Altenburg gerade dabei, den Osten kennen zu lernen. Ganz ungeniert sagen ihnen die jungen Leute, dass sie stolz auf Deutschland sind, niemals nach Kreuzberg ziehen würden und die Todesstrafe gut finden. Claudia Roth möchte von einem der jungen Männer die Adresse haben. Sie würde ihm gerne Schilys Kriminalstatistik mit den rechtsradikalen Überfällen schicken. Der junge Mann winkt ab.

„Das war hart eben“, sagt Claudia Roth, als sie wieder im Auto sitzt. Das Gespräch hat sie mitgenommen. „Das waren normale Jugendliche“, sagt sie, „und die quatschen so ein rechtes Zeug.“

Am nächsten Tag treffen Claudia Roth und Fritz Kuhn im feinen Steigenberger-Hotel in Jena mit Lothar Späth zusammen. „Ich finde gut, dass die Grünen mal herkommen“, sagt Späth trocken. „In der Politik gibt es viel zu viel Statistik und viel zu wenig Wirklichkeit.“ Kann man von einem Besuch der beiden grünen Parteivorsitzenden in einem ostdeutschen Bundesland vielleicht gar nicht mehr erwarten als das: mehr Wirklichkeit?

Aber warum trägt Fritz Kuhn dann zwei Tage lang das neue Konzept der Grünen für Ostdeutschland schon fertig in seiner Aktentasche mit sich rum? Im Sommer soll es der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Noch nicht einmal die ostdeutschen Landeschefs kennen es, was ja für sich genommen schon wieder alles über die Machtverhältnisse in der Partei sagt. Siegt hier wieder einmal westdeutscher Machtinstinkt plus Statistik über ostdeutsche Wirklichkeit?

Kuhn lächelt darüber. Von Machtinstinkt kann schon deshalb keine Rede sein, weil die Macht in Ostdeutschland für die Grünen außer Sichtweite ist. Der Parteichef ist überzeugt davon, dass die Grünen im Osten jetzt vor allem einen langen Atem brauchen. Aber wachsen soll die Partei schon. Vielleicht nächstes Jahr bei der Wahl in Sachsen-Anhalt sogar in den Landtag einziehen, damit endlich das Gerede aufhört, die Grünen seien im Osten tot.

Und was heißt hier Statistik? Kuhn hat sich in Ostdeutschland viel umgesehen. Nach jeder neuen Reise verändert er Nuancen an seiner neuen Strategie. Und mit den Ostlandesverbänden wird das Papier in den nächsten Wochen diskutiert.

Kuhn will, dass die Grünen im Osten langsam, aber zäh ihr Image verändern: Sie sollen zeigen, dass Ökologie nicht nur etwas für bessere Zeiten ist. Sie sollen mehr für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit tun und ihre soziale Sensibilität erhöhen. Die Partei soll die Bekämpfung des Rechtsradikalismus als eine ihrer wichtigsten Aufgaben sehen.

Braucht diese Geschichte, die keinen Anfang verträgt, ein Ende? Vielleicht ein Ende, das genauso typisch wie der Anfang ist? Als Claudia Roth und Fritz Kuhn in Jena ihren Thüringen-Besuch beenden, ist der Letzte, der ihnen in die Arme läuft, ein Schwabe.

Ausgerechnet. Der Oberbürgermeister von Ulm war zu einem Investorengespräch bei Lothar Späth. Einem Schwaben. Kuhn und Roth haben bei dieser Gelegenheit vielleicht gelernt, dass es für den Osten nicht das Schlechteste ist, wenn er von Schwaben unterwandert ist – jedenfalls nicht schlechter als für die grüne Parteizentrale.

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