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Die Mobilisierung der Unzufriedenen

Die Unruhen in Algerien beschränken sich nicht auf die Jugendlichen in der Kabylei. Im ganzen Land gibt es Proteste

MADRID taz ■ Jeder Anlass reicht, damit in Algerien der Funken der Rebellion überspringt. Am Sonntag und Montag kam es im Osten des Landes in der Stadt Khenchela, rund 500 Kilometer von der Hauptstadt Algier entfernt, nach einem Streit zwischen zwei Jugendlichen und mehreren Zivilpolizisten zu Unruhen. Im nahe gelegenen Hdjar Eddis gingen die Demonstranten gegen den Wassermangel auf die Straße und warfen Steine. Öffentliche Gebäude gingen in Flammen auf. Mindestens 60 Demonstranten wurden verletzt.

„Gegen die Hogra“ riefen die Demonstranten, wie in den Wochen zuvor ihre Gesinnungsgenossen in der Kabylei. Das Wort steht im algerischen Arabisch für „Verachtung“ oder „Missachtung“ und ist ein Sammelbegriff, der gleichermaßen für fehlende demokratische Freiheiten, Repression, die angespannte soziale Lage oder die Jugendarbeitslosigkeit steht. Längst machen sich nicht nur die Jugendlichen diesen Slogan zu Eigen. In der Kabylei zogen Anwälte, Ärzte und Beamte auf die Straße. In der Hauptstadt Algier folgten die Studenten und Journalisten. Jede Gruppe vermischt ihre spezifischen Anliegen mit der Empörung über die staatliche Repression, durch die in der Kabylei nach offiziellen Angaben 1.300 Menschen verletzt und 52 getötet wurden – rund 90 Tote sind es nach Zählungen der unabhängigen Presse und der Opposition.

„Gründe für die Unzufriedenheit gibt es überall in Algerien“, gesteht selbst Präsident Abdelasis Bouteflika ein: „Die Arbeitslosigkeit, die Wohnungsnot, die steigenden Lebenshaltungskosten.“ Nach dem Einsatz von Schusswaffen gegen Demonstranten in der Kabylei ist Bouteflikas mühsam aufgebauter Ruf als Friedensstifter zerstört. Anstatt wie versprochen den islamistischen Terror in den Griff zu bekommen, hat der Präsident einen neuen Konflikt geschürt, ohne den alten überwunden zu haben. Noch immer sterben fast täglich Menschen bei Anschlägen und Massakern.

Seit die Gendarme am 18. April im kabylischen Bergdorf Beni Douala einen Gymnasiasten auf der Wache erschossen und damit die Jugendproteste ausgelöst hatten, verliert der Präsident zusehends an Unterstützung. Die hauptsächlich unter den Berbern verankerte laizistische Versammlung für Kultur und Demokratie (RCD) stieg Ende April aus der Regierung aus. Bouteflika stützt sich seither nur noch auf die konservativen Kräfte aus der ehemaligen Einheitspartei FLN und deren Abspaltung RND, so wie auf zwei islamistische Parteien, Hamas und Ennahda.

Die Opposition will die kommenden Wochen nutzen, um die Unzufriedenen zu mobilisieren. Am kommenden Donnerstag ruft die Vereinigung der Gemeinden und Stämme aus der Kabylei zu einer Großdemonstration nach Algier. Mindestens eine halbe Million Menschen werden erwartet. Und für den Nationalfeiertag, den 5. Juli, plant die größte nicht religiöse Oppositionspartei, die Front der Sozialistischen Kräfte (FFS), einen Marsch: „Der Beginn der Rückeroberung eines unerlässlichen Rechtes: der Selbstbestimmung“, soll es werden.

REINER WANDLER

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