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Friedenspflicht greift nicht

Urteil: Gewerkschaftliche Arbeitskämpfe zur Durchsetzung von sozialen Forderungen bei Betriebsstilllegungen sind zulässig  ■ Von Kai von Appen

Betriebsräte sind bei Betriebsschließungen und der Bekämpfung der Folgen nicht mehr sich selbst und den Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) überlassen: Wenn es darum geht, die Folgen für die Betroffenen sozial abzufedern, können Gewerkschaften tarifpolitische Maßnahmen ergreifen – notfalls mit Urabstimmung und Streik –, ohne dass dies einen Eingriff in die unternehmerische Freiheit oder die tarifliche Friedenspflicht darstellt. Dieses bahnbrechende Urteil hat gerade das Lübecker Arbeitsgericht im Konflikt um die Schließung der „Deutschen Automaten- und Getränkemaschinen GmbH“ (Dagma) gefällt. (AZ: 6 Ga 21/01) „Es ist das erste Mal, dass ein Gericht tarifliche Maßnahmen für zulässig erklärt hat“, kommentiert der Hamburger IG Metall-Justitiar Christian Schoof den Etappensieg.

Die Ausgangslage war kompliziert und nicht unumstritten. Der dänische Mutterkonzern Wittenborg hatte entschieden, das hochprofitable Unternehmen in Lübeck-Reinfeld zum Jahresende stillzulegen und die Produktion nach Dänemark zu verlagern. Und so kam es zu den üblichen Verhandlungen über einen Sozialplan/Interessens-ausgleich nach §111 BetrVG, die in der Regel mit einem Schiedsspruch in der Einigungsstelle enden. Da Dagma dem Unternehmerverband Nordmetall angehört, galt zudem die relative Friedenspflicht.

Die IG Metall Küste forderte, für den Betrieb Dagma einen Ergänzungstarifvertrag abzuschließen, der die Basis zur finanziellen Ausstattung einer Qualifizierungsgesellschaft für die 210 MitarbeiterInnen in den folgenden 24 Monaten schaffen sollte. „Ich war früher eher skeptisch bei einer solchen Forderung“, sagt Schoof. „Aber es hat für die Betroffenen einen psychologisch unwahrscheinlich hohen Stellenwert, wenn sie nach der Stilllegung nicht direkt in die Arbeitslosigkeit abgleiten, sondern sich über einen gewissen Zeitraum durch Qualifizierung auf einen neuen Job vorbereiten können.“

Allerdings hatte es die IG Metall bisher bei ähnlichen Konflikten immer mit tarifungebundenen Unternehmen zu tun – keine Friedenspflicht –, mit deren Geschäftsführung direkt verhandelt und ein Vertragswerk abgeschlossen werden konnte. Deshalb wurde im Fall Dagma nicht der Konzern, sondern Nordmetall zum Abschluss eines „unternehmensbezogenen Ergänzungstarifvertrages“ aufgefordert. Als der Unternehmerverband mauerte, leitete die Gewerkschaft zur Durchsetzung der Forderung die Urabstimmung ein, Nordmetall indes wollte mit einer Einstweiligen Verfügung Streiks unterbinden.

Doch das Arbeitsgericht Lübeck winkte ab. Die Kammer hält „die Durchführung von Qualifizierungsmaßnahmen für von Entlassung bedrohte Mitarbeiter grundsätzlich für tariflich regelbar“. Daran ändere auch nichts, dass die Gründung einer Qualifizierungsgesellschaft auch im Rahmen von Verhandlungen über einen Sozialplan/Interessensausgleich zwischen Unternehmen und Betriebsrat nach dem BetrVG möglich wäre. Da der Flächentarifvertrag der Metallindustrie keine Regelungen über Betriebsstilllegungen enthalte, gelte für diese Thematik auch nicht die aus Tarifverträgen resultierende Friedenspflicht. Im Klartext: Im Gegensatz zum Betriebsrat, der an das Prozedere des BetrVG gebunden ist, kann die Gewerkschaft Arbeitskampfmaßnahmen ausrufen.

Die RichterInnen messen überhaupt dem Grundrecht auf Tarifautonomie einen hohen Stellenwert ein – vor allen anderen Rechten. So seien Arbeitskampfmaßnahmen für Qualifizierung auch dann möglich, wenn die Entscheidung des Unternehmens, den Betrieb dichtzumachen (unternehmerische Freiheit) zwar „im Detail beeinträchtigt“, aber „die Verlagerungsentscheidung im Kern nicht angetas-tet“ werde.

Bei Dagma hat das Urteil bereits Wirkung gezeigt. Zur Finanzierung von Qualifizierung und Sozialplan hat der Konzern inzwischen 14 Millionen Mark bereit gestellt. Vor der Urabstimmung lag das „Höchstangebot“ bei 5,5 Millionen Mark.

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