500.000 Tote für den Wahlkampf

Schriften zu Zeitschriften: Lettre International druckt die Anklageschrift des Journalisten Christopher Hitchens gegen den Staatsmann Henry Kissinger

von STEFAN SCHAAF

Im Juli 1998 beschlossen 148 Mitgliedstaaten der UNO in Rom bei nur sieben Gegenstimmen die Einrichtung eines Internationalen Gerichtshofes, der Kriegsverbrechen untersuchen und aburteilen soll. Die USA stimmten dagegen. Erst in letzter Minute und nur, um nicht jeglichen Einfluss auf die weiteren Verhandlungen zu verlieren, entschloss sich Präsident Clinton Ende des vergangenen Jahres doch noch, dem Abkommen beizutreten. Ratifiziert haben die Gründungserklärung bislang 33 Staaten. Die USA gehören nicht dazu, und im Kongress hat sich eine von beiden Parteien getragene Front gebildet, die dafür sorgen will, dass dies auch nie geschieht. Die Begründung ist offen und direkt: Es sei für die Vereinigten Staaten keinesfalls akzeptabel, versicherte der ehemalige Menschenrechtsbeauftragte der Clinton-Administration, David Scheffer, dem Kongress, dass dieser Gerichtshof unter Umständen gegen amerikanische Soldaten oder Regierungsbeamte Anklage erhebe.

Scheffer hätte auch sagen können: dass unser ehemaliger Außenminister Henry Kissinger womöglich einer der ersten Angeklagten eines solchen Gerichtshofes würde. Umfangreiche Belege für die Stichhaltigkeit einer solchen Befürchtung liefert jetzt der Journalist Christopher Hitchens in seinem Buch „The Trial of Henry Kissinger“, das im April auf Englisch, im Herbst bei der DVA auf Deutsch („Die Akte Kissinger“) erscheinen soll, jetzt aber bereits vollständig in der neuesten Ausgabe der europäischen Kulturzeitschrift Lettre International vorabgedruckt wurde. Kissinger verdiene die Strafverfolgung „wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und wegen Verschwörung zu Mord, Entführung und Folter“, schreibt Hitchens. Er stammt aus Großbritannien, sein journalistisches Handwerk bestreitet er aber seit vielen Jahren in den USA, wo er für Vanity Fair schreibt und als Kolumnist der traditionsreichen linken Wochenzeitung The Nation regelmäßig Salz in die Wunden der Mächtigen streut. Die amerikanische Lust an der Glorifizierung von Heldenfiguren ist ihm ein Gräuel, so schrieb er ein vernichtendes Buch über Mutter Teresa, schrieb genüsslich-ätzend über den Kult um Lady Di und verfasste eine äußerst bissige Kritik der Charakterschwächen Bill Clintons.

Nun also Kissinger, weltweit, von der Los Angeles Times bis zum Spiegel, hofierter Elder Statesman, Friedensnobelpreisträger und Autor, der pro Redeauftritt 30.000 Dollar kassiert und mit seiner Firma „Kissinger Associates“ Großfirmen die Türen in fremde Länder öffnet, ohne lästige Fragen zu stellen. Kann man sich diesen heute 78-jährigen Mann in Handschellen wie Slobodan Milošević vorstellen, mit gebeugtem Haupt wie Chiles Augusto Pinochet? Hitchens schildert Kissingers Rolle und seine Aktionen in Vietnam, Kambodscha, Chile – an Tatorten also, die schon seit langem von Kissinger-Gegnern genannt werden. Hitchens stützt sich dabei auf Akten und Gesprächsprotokolle aus der Nixon-Ära, die zum Teil erst in den vergangenen zwei Jahren in den USA freigegeben wurden. Der Vergleich zwischen Kissingers eigener Darstellung einzelner Unterredungen in seinen Memoiren und dem tatsächlich Gesagten bestätigt die schlimmsten Befürchtungen über die Diskrepanz zwischen Kissingers politischer Fassade und seiner faktischen Politik hinter den Kulissen.

Nach Kräften hatten Kissinger 1970 als Chef der inoffiziellen politischen Kontrollinstanz der US-Geheimdienste, des so genannten 40 Committee, den Amtsantritt des gewählten chilenischen Präsidenten Salvador Allende zu verhindern gesucht. Man könne doch einem Land nicht erlauben, kommunistisch zu werden, nur weil dessen Bevölkerung so unvernünftig sei, sagte Henry Kissinger damals. Am 16. Oktober, fünf Wochen nach Allendes Wahlsieg und acht Tage vor dessen Vereidigung durch den chilenischen Kongress, kabelte die CIA folgende unmissverständliche Order an ihre Dienststelle in Santiago: „Weiter bestehendes, klares Ziel ist der Sturz Allendes durch einen Putsch. Es wäre wünschenswert, wenn dies noch vor dem 24. Oktober zustande käme, doch Bemühungen in dieser Hinsicht werden über dieses Datum hinaus unvermindert verfolgt.“

Die CIA stand mit einer rechtsextremen Offiziersgruppe in Kontakt, der sie eigentlich keinen erfolgreichen Putsch zutraute, die der Geheimdienst dennoch mit 50.000 Dollar finanzierte und der man per Kurier aus Washington eine Ladung unmarkierter Maschinenpistolen samt Munition zukommen ließ. Zum Putsch kam es zunächst nicht, aber zur versuchten Entführung und danach zur Ermordung des angesehenen und Allende-treuen chilenischen Militärchefs General René Schneider durch diese Offiziersgruppe.

Doch die am schwersten wiegenden Vorwürfe gegen Kissinger drehen sich um die völkerrechtswidrige Bombardierung Kambodschas und um den Vietnamkrieg. Hitchens ist nicht der erste, der den Vorwurf erhebt, Kissinger habe es ermöglicht, dass Richard Nixons Präsidentschaftskampagne 1968 Präsident Lyndon B. Johnson hinterging und die Pariser Friedensverhandlungen sabotierte. Nixons Leute ließen der südvietnamesischen Regierung mitteilen, sie möge bis zur Präsidentschaftswahl hart bleiben: Falls Nixon siege, werde es für Saigon bessere Konditionen geben, als ihnen Johnson gegenwärtig anbiete. Südvietnam blieb hart, die Verhandlungen brachen zusammen, und der Krieg dauerte mindestens vier Jahre länger. 31.000 GIs und eine halbe Million Vietnamesen starben in jenen Jahren einen unnötigen gewaltsamen Tod.

Jeder zweite der fast 60.000 Namen gefallener US-Soldaten, die in das Vietnam-Memorial in Washington eingraviert wurden, steht dort wegen dieser ungeheuerlichen Intrige eines machtgierigen Politikers. Hitchens über ihn: „Kissinger wird nicht wegen seiner ausgefeilten Manieren oder seines beißenden Humors eingeladen und hofiert (seine Manieren sind eigentlich eher grob und sein Humor besteht aus einem Bündel von Bonmots aus zweiter Hand). Nein, er ist so begehrt, weil seine Anwesenheit für einen Schauder sorgt, für den authentischen Touch roher, vorlauter Macht.“

Lettre International, Heft 53, II. VJ./2001, 17 DM