: Die Droge Geld
Südamerika, Desperados und eine halbe Million unschuldige Dollar: In „Brennender Zaster“ recherchiert Ricardo Piglia ein kaltblütiges Lehrstück über den Kapitalismus
Die vier Männer, die am hellichten Nachmittag einen Geldtransport überfallen, gehen ungewöhnlich brutal vor: Zwei Polizisten und der Schatzmeister werden erschossen; auch ein Passant und ein kleines Mädchen werden Opfer der wild um sich ballernden Bankräuber. Es sei eine „Springflut brutalster Gewalt“ gewesen, schreiben die argentinischen Zeitungen später. Der Polizei von Buenos Aires ist klar, dass sie es mit unberechenbaren Desperados zu tun hat, die nur mit ebenso brutaler Gewalt bekämpft werden können: Als sie die Täter fünf Wochen später in einem Versteck im benachbarten Uruguay aufspürt, kommt es vor laufenden Fernsehkameras zu einer 16 Stunden dauernden Belagerung – einem blutigen Showdown.
„Brennender Zaster“ heißt der Roman, in dem der argentinische Autor Ricardo Piglia die Geschichte eines schockierenden Verbrechens und seiner nicht minder schockierenden Verfolgung erzählt. Es ist der Bericht einer wahren Begebenheit, eines in seiner Gewalttätigkeit und medialen Präsenz leider schon fast normalen Verbrechens der Neunziger, könnte man meinen. Bis man beim Lesen über die Jahreszahl stolpert: 1965.
Die Berichte über den blutigen Bankraub und die anschließende Belagerung hat Piglia wie viele seiner Landsleute damals in den Zeitungen verfolgt. Zufällig traf er einige Monate später die Geliebte eines der Banditen, die ihm die ganze Geschichte aus ihrer Sicht erzählte. Er begann sich für den Fall zu interessieren, erhielt Einblick in Gutachten und Verteidigungsschriften – doch erst 25 Jahre später gelang es ihm, die Geschichte aufzuschreiben.
Es ist eine nüchtern erzählte Reportage geworden. Der Autor enthält sich jeder Spekulation und jeder Wertung. Doch hinter den sinnlosen Morden lässt er die Strukturen einer Gesellschaft sichtbar werden, die auf Gewalt gebaut ist: Terroristen führen Krieg gegen den Staat, und dieser führt Krieg gegen seine Bürger. Ein Teufelskreis: Politiker versorgen skrupellose Verbrecher mit Waffen, Festgenommene werden in den Gefängnissen mit Elektroschocks gefoltert, und die Polizei ist darum bemüht, jeden gewöhnlichen Kriminellen als gemeingefährlichen Terroristen darzustellen. „Die wackere Polizei von Buenos Aires führte seit einiger Zeit einen Vernichtungsfeldzug. Sie töteten alle, die sie bewaffnet antrafen, und wollten keine Gefangenen.“ – Das war zehn Jahre bevor die Generäle in Argentinien putschten.
Piglia schaut genau hin, bis ins Detail schildert er die Taten der kokainsüchtigen Desperados, die – wie der Name sagt – längst jede Hoffnung verloren haben. Geld ist für sie eine Droge wie Koks oder die Amphetamine, die sie einwerfen. Doch am Ende beweisen sie, dass nichts ihnen heilig ist: Sie zünden die Scheine an, die sie mit hohem Blutzoll erbeutet haben, und schmeißen sie aus dem Fenster. Denn erst als sie mit ihrer Beute in Uruguay gestellt werden, brechen die Pistoleros mit der Gesellschaft, deren grundsätzliche Regel sie bis dato akzeptiert hatten. Dass sie nun das Geld – annähernd 500.000 Dollar – verbrennen, beweist in den Augen aller Beobachter endgültig ihre Bosheit und ihren Zynismus. „Nihilisten“ werden sie fortan genannt, denn „unschuldiges Geld verbrennen ist ein Akt des Kannibalismus“, sagt ein Fernsehreporter, der die Szene verfolgt.
„Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ – Piglia hat Bertolt Brechts Frage seinem Buch vorangestellt. Er hat keinen sozialromantischen Heldenroman geschrieben, kein Epos von Umverteilung und Gerechtigkeit, sondern ein kaltblütiges Lehrstück über den Kapitalismus.
DIEMUT ROETHER
Ricardo Piglia: „Brennender Zaster“, aus dem argentinischen Spanisch von Leopold Federmair, Wagenbach, 192 Seiten, 34 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen