: Die Zeit und das Dorf
Von wegen die Uhren ticken anders! Jacalyn Carley erzählt in ihrem Roman „Was sagt das linke Knie zum rechten?“ von Feiern in Dorfgaststätten mit Folgen, von verschwundenen Bräuten und anderem Ungemach in einem kleinen Brandenburger Kaff
von GERRIT BARTELS
Zeigermaß und Uhr, hat Walter Jens in „Statt einer Literaturgeschichte“ geschrieben, seien die „Fixpunkte des klassischen Romans“; in der modernen Prosa jedoch gebe es nur noch „Uhren ohne Zeiger“. In „Was sagt das linke Knie zum rechten?“, dem ersten Roman der in Berlin lebenden amerikanischen Choreografin Jacalyn Carley, sind die Zeiger wieder dran an der Uhr – allerdings nicht um die Linearität von Carleys Roman oder gar eine Rückkehr zum klassischen Erzählen zu symbolisieren, sondern weil sie einmal selbst zu Hauptfiguren und Erzählern dieses Romans geworden sind.
Die beiden Zeiger heißen Anita und André und sie sitzen als Vögel in einer Kuckucksuhr, um jede Viertelstunde in der Dorfgaststätte eines kleinen Brandenburger Dorfes anzuzeigen. Anita ist, nachdem sie 1978 bei einer Militärübung der Roten Armee versehentlich erschossen worden war, in der Uhr gelandet, um ihrer Tochter Conny und ihrem Ehemann Thomas, dem Besitzer der Dorfgaststätte, wenigstens als Teil einer Kuckucksuhr nahe zu sein: „Ich hatte keine Lust, mich mit untergeschlagenen Armen in das Korps der teuren Verblichenen einzureihen.“ André dagegen lebt zwar noch: als immer dicker werdender und an Schizophrenie leidender Sohn bei seiner Mutter, doch auch er sitzt lieber in der Uhr, aus Zuneigung, „damit ich Conny von ferne anbeten kann. Mehr nicht. Seitdem gibt es keinen anderen Menschen mehr in meinem Leben. Außer Mutti, natürlich.“
Eine hübsche Erzählkonstruktion, die anfangs leicht irritiert, weil sie den Einstieg ins Buch erschwert, im Verlauf aber immer besser funktioniert – erlaubt sie es doch Carley, ihrem mal anrührenden, mal schrulligen, mitunter aber auch grausamen Roman die unterschiedlichsten Perspektiven zu geben und ihn sozusagen von vorn, von hinten und von der Seite zu erzählen.
Jede Geschichte aber und jede Erinnerung, auf der sie basiert, braucht ihren Auslöser, ansonsten ist sie nur halb so viel oder gar nichts wert, und so kommt es, dass die durch die Macht der Gewohnheit doch sehr rammdösig gewordenen André und Anita überhaupt erst richtig ins Gespräch kommen, als Conny einen Tag vor ihrer Heirat im Jahr 1996 verschwindet; ihr Vater hat sie vor einem Friseursalon in Berlin-Steglitz abgesetzt, ihr Bräutigam in spe will sie drei Stunden später wieder abholen, trifft sie aber nicht mehr an. Niemand hat sie gesehen, nicht im Friseursalon, nicht auf der Straße: eine Frau im Rollstuhl, die spurlos verschwindet.
Und so beginnt zuerst die tote Anita zu erzählen, wie sie sich in den Siebzigern in Thomas verliebte, wie sie Conny bekam, wie sie starb und dann in der Uhr landete; so schildert André, vom Verlag der besseren Unterscheidung halber kursiv gedruckt, Anitas Beerdigung, erzählt, wie er in Monksdorf als jüngster von fünf Brüdern aufwächst, und wie er mit seinen ebenfalls pubertierenden Freunden Nico, Micha und Georg kurz nach der Wende an den ersten großen Feierlichkeiten in der Dorfgaststätte teilnimmt – immer wenn die Erwachsenen gegangen sind, machen sie sich über die Bier- Schnaps-, und Zigarettenreste her und entdecken dabei jedes Mal die von ihnen angebetete Conny, die im Vollrausch neben einem Klavier liegt.
Es sind simple Storys, wenn man so will, simple Geschichten aus einem kleinen Brandenburger Dorf, an dem die Zeitläufe fast spurlos vorbeigegangen sind, die dann aber mehr von der Welt und vom Leben erzählen als so mancher gefeierter Berlin-Roman; Geschichten von Schuld und Liebe, von einer kollektiven Vergewaltigung und einem Inzest, von Vaterliebe und fehlgeleitetem Dorfklatsch, von missglückten und mehr oder weniger geglückten Ausbrüchen aus einer dörflichen Gemeinschaft, in der die Uhren im Jahr 1996 genauso ticken wie 1976 oder 1956.
Carley gelingt es dabei, ihren Roman in der richtigen Schwebe zu halten. Ihr Erzählton ist locker und manche Episoden sind komisch. Manchmal wird es gar wunderlich, manchmal ein wenig esoterisch, aber nie peinlich oder gar Betroffenheitsliteratur; denn letzten Endes ist es die traurige Geschichte einer jungen Frau, die in vielerlei Hinsicht schwer beschädigt ist.
Vielleicht ist es ja die fein ausgeklügelte Form, die diese Geschichte zu erzählen erst möglich macht. Die beiden in der Kuckucksuhr jedenfalls ringen der Zeit einiges an Erkenntnissen ab, auch wenn sie sie nicht zurückdrehen oder wiederfinden können. Sie bringen Licht in manches Dorfdunkel, decken auf, was es auf sich hat mit Connys Querschnittslähmung, die aus einem Autounfall resultiert, begeben sich auf die Suche nach ihr. Vor allem aber schlagen sie dabei auf den Punkt genau immer die richtigen Töne an.
Da könnte es bald mehr als nur ein Gerücht sein, dass Filmproduzenten und Drehbuchautoren sich bei Jacalyn Carley und ihrem Verlag die Klinke in die Hand geben.
Jacalyn Carley: „Was sagt das linke Knie zum rechten?“ Aus dem Englischen von Gertraude Krueger, Eichborn Berlin, Berlin 2001, 310 Seiten, 39,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen