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Ein Megastar auf Welttournee

Es geht um Historisches. Die Kandidatur Gregor Gysis in Berlin verändert nicht nur die PDS, sondern die gesamte Bundesrepublik. Für ihn selbst jedoch ist sie eine Niederlage

Gysi muss der Garant dafür sein, dass die PDS endlich radikal mit ihrer SED-Vergangenheit bricht

Die deutsche Hauptstadt kriegt sich nicht mehr ein. Gregor Gysi tritt an – wow! Ein Popstar aus dem Osten will Regierender Bürgermeister werden – yeah! Viele Berliner finden das aufregender als die vier Konzerte, die Madonna ab heute in der Stadt gibt, und Madonna ist immerhin die letzte Göttin auf diesem Erdball. Also, ihr lieben, braven Bürger im Rest der Republik, falls ihr es noch nicht mitbekommen habt: Gysi ist hip. Er steht wahrscheinlich kurz vor einer erfolgreichen Welttournee. Mit Sahra Wagenknecht im Vorprogramm.

Man kann das alles natürlich für einen dieser Gaga-Effekte halten, die eine völlig überhitzte Medienmaschinerie produziert. Okay. Man kann auch einwenden, dass in anderen Gegenden der Republik ein gewisser Edmund Stoiber in die Tasten haut, der schließlich auch nicht von schlechten Eltern ist. Gut. Aber eines muss man zugestehen: Mit Gysi hat Berlin endlich die Provokation, die die Stadt braucht, um aus ihrem Provinzialismus herausgerissen zu werden.

Die PDS macht damit als erste Partei wahr, was alle anderen nur versprechen: Berlin, wenn es wirklich Hauptstadt werden will, braucht nicht nur neue Ideen, sondern auch neue Köpfe. Keine Provinzheinis, nicht diese Bögersteffelwowereits, die die Stadt so peinlich aussehen lassen, sondern Leute mit Klasse, Charisma und politischem Durchsetzungsvermögen. Politiker wie Gysi. Oder Schäuble. Wie dringend sie gebraucht werden, hat die Berliner CDU mit ihrem Husarenstück am Sonntag eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Nicht Schäuble, sondern Frank Steffel, dieser etwas frühreife Junge aus Reinickendorf, wird Spitzenkandidat der CDU. Das allein reicht schon, um Gysis Kandidatur gut zu finden. Und wer Steffel auch noch dabei zugesehen hat, wie er während seiner offiziellen Vorstellung durch Diepgen eine halbe Stunde lang unmotiviert lächelte, so als könne er es gar nicht erwarten, von den Kommunisten endlich mal richtig eins auf die Mütze zu bekommen – wer dieses Lächeln gesehen hat, wird sogar noch den einen oder anderen Grund gefunden haben, Gysi nicht nur gut zu finden, sondern ihn vielleicht sogar zu wählen.

Aber mehr noch als Berlin profitiert von Gysis Entscheidung die PDS – und mit ihr die ganze Bundesrepublik, auch wenn diesen Zusammenhang viele im Land für den letzten dialektischen Widerspruch dieser Epoche halten. Die PDS schickt ihren einzigen populären Politiker in der Hauptstadt ins Rennen. Sie tut das, weil es für sie um viel, vielleicht sogar um alles geht: darum, ob sich die PDS dauerhaft im bundesdeutschen Parteiensystem etabliert; ob sie dabei im Kampf mit den Grünen und der FDP im Rennen um Platz drei gewinnen kann; ob es ihr zum ersten Mal gelingt, im Westen über die Fünfprozenthürde zu springen und damit ihren Makel als ostdeutsche Milieupartei loszuwerden. Die Wahlen in Berlin sind für die Sozialisten noch wichtiger als die Bundestagswahlen im nächsten Jahr.

Natürlich ist die PDS nicht identisch mit Ostdeutschland, und sie repräsentiert nicht allein ostdeutsches Lebensgefühl. Aber die PDS ist ein Symbol für den Osten. Sie ist die einzige Partei, die konsequent bis zur Rücksichtslosigkeit ostdeutsche Interessen vertritt. Sie ist die einzige Partei, die nicht westdeutsch dominiert ist. Sie ist die einzige Partei, die mit der im Osten nach wie vor verbreiteten Fremdheit gegenüber der Moderne spielt. Sie ist die einzige Partei, die das ostdeutsche Unterlegenheitsgefühl immer wie neu auflädt. Und sie ist die einzige demokratisch gewählte Partei, die elf Jahre lang weitgehend ausgegrenzt worden ist. Diese Sonderrolle gestehen ihr viele Ostdeutsche zu, selbst diejenigen, die die PDS bieder und langweilig finden und sie deshalb nicht wählen.

Gelingt es also den Genossen, ab Herbst in der deutschen Hauptstadt mitzuregieren, wird das nicht gerade Berlin, aber die Bundesrepublik dramatisch verändern: Es wäre der vielleicht letzte Schritt, der die so oft beleidigten Ostdeutschen locker macht, der den Osten endgültig ins parlamentarische System des Westens integriert. Es wäre allerdings auch ein Schritt, der die Ostdeutschen, insbesondere die alten Genossen in der PDS, vielleicht wieder überheblich werden lässt, weil sie mehr denn je das Gefühl haben, es drehe sich sowieso alles um sie. Bei dem einen oder anderen wird sich sogar die nach vierzig Jahren SED-Herrschaft tief sitzende Arroganz der Macht wieder bemerkbar machen. Aber gemach, gemach, das Land wird’s überleben. Es wäre trotzdem das, wovon sonst oft nur die Rede ist: deutsche Einheit.

Gysi, der Anwalt der Ostdeutschen, ist fast ein Garant dafür, dass dies gelingen wird. Er wird die PDS in Berlin an oder über die 20-Prozent-Grenze führen. Er wird der Partei einen idealen Auftakt für den Bundestagswahlkampf 2002 bescheren. Und er wird die Schwächen der Partei verdecken. Er wird der PDS im Westen mehr Akzeptanz und Vertrauen verschaffen, als sie im Moment verdient hat.

Gysi darf dabei jedoch nicht vergessen, dass er mehr denn je für die PDS Verantwortung übernehmen muss. Er darf in Berlin keine One-Man-Show abziehen und darauf hoffen, dass ihm seine mittlerweile kokett zur Schau gestellte Distanz zur PDS zusätzliche Stimmen bringt. Gysi muss auch der Garant dafür sein, dass seine Partei endlich radikal mit ihrer SED-Vergangenheit bricht. Er muss dafür sorgen, dass die Genossen ihre Verantwortung für historische Schuld nicht nur als Lippenbekenntnis verstehen, das man halt ablegen muss, wenn man mitregieren will. Der weltmännische Gysi muss seiner Partei endlich ihren kulturellen Konservatismus austreiben. Die deutsche Hauptstadt verträgt nicht nur keinen westdeutschen, sondern auch keinen ostdeutschen Provinzialismus.

Gysi ist hip. Für Berlin ist seine Kandidatur aufregender als ein Konzert mit Madonna, der letzten Pop-Göttin

Es geht also um Historisches. Darunter macht es Gysi ja sowieso nicht mehr so gern. Aber der Dienst, den der PDS-Star seiner Partei, vielleicht sogar dem ganzen Land erweist, ist für ihn selbst eine persönliche Niederlage. Gysi hat so lange mit der Idee kokettiert, Regierender Bürgermeister von Berlin werden zu wollen, dass sie ihn am Ende gefangen genommen hat. Er war nicht mehr in der Lage, eine souveräne Entscheidung zu treffen. Am Ende musste er antreten – eine Absage hätte seiner Partei zu großen Schaden zugefügt. Gysi ist Opfer seiner eigenen Eitelkeit geworden.

Er als Politiker hat bei der Entscheidung ebenso verloren wie seine Familie, auch wenn solche privaten Einwände angesichts historischer Vorgänge albern wirken mögen. Gysi verdankt seine Popularität unter anderem seiner Selbstironie und der Fähigkeit, im politischen Geschäft Distanz zur Politik halten zu können. Sein Bild als ein außergewöhnlicher Politiker war auch durch seinen souveränen Rückzug ins Private im vorigen Jahr geprägt. Enzensberger hat einmal geschrieben, dass der Eintritt in die Politik der Abschied vom Leben sei, der Kuss des Todes. Gysi war immer ein Beispiel dafür, dass man der Politik mit heiler Haut entkommen kann. Seit Sonntag gilt das nicht mehr.

Jetzt hat ihn der Kuss des Todes dahingerafft. JENS KÖNIG

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