piwik no script img

„Mit der Angst umgehen“

Wie will Marion Brüssel (43) leben? Die engagierte Vorsitzende des Berliner Hebammenverbandes e. V. wünscht sich, dass Frauen in der Schwangerschaft wieder mehr sich selbst und ihrem Körper vertrauen und sich nicht so sehr von den Vorschriften der modernen Medizin einschüchtern lassen

Interview WOLFGANG LÖHR

taz: Die vorgeburtliche Diagnostik gehört mittlerweile zum Standardprogramm der Schwangerenvorsorge. Welche Erfahrung als Hebamme haben Sie damit gemacht?Marion Brüssel: Die Pränataldiagnostik, zur der ja auch die Ultraschalluntersuchung gehört, wird als etwas völlig Legitimes angesehen. Das ist ja auch nachvollziehbar: Durch die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik wird die Nachfrage geweckt. Und der Wunsch, ein gesundes Kind zu bekommen, ist so alt wie unsere Gesellschaft. Ich denke, dieser Wunsch ist normal und hat erst einmal nichts mit Behindertenfeindlichkeit zu tun. Dass dies letztendlich dazu führt, behindertes Leben zu vernichten, ist vielen Frauen vorher nicht bewusst.

Welche Bedeutung haben die Untersuchungen für die Frauen?

Sie versprechen Sicherheit, dass alles in Ordnung ist. Das Problem ist jedoch, dass viele Frauen sich erst richtig auf die Schwangerschaft einlassen können, wenn sie vom Arzt bestätigt bekommen, dass das Kind gesund ist. Vorher ist es nur eine Schwangerschaft auf Probe.

Humangenetiker sagen, die meisten Frauen seien überglücklich, wenn sie das Untersuchungsergebnis erfahren, sie könnten sich dann frei von Ängsten auf den Nachwuchs freuen.

Ja, das bekommen wir auch immer zu hören. 96 Prozent der Frauen verließen die Praxis völlig beglückt, heißt es. Das liegt aber nicht daran, dass diesen 96 Prozent gesagt wird, es sei alles in Ordnung. Es liegt vielmehr daran, dass allen Frauen – eben nicht nur den so genannten Hochrisikoschwangeren – vermittelt wird: „Eine Schwangerschaft ist etwas Gefährliches. Sie birgt das Risiko, dass du sehr krank wirst. Dass das Kind krank ist. Dass dein ganzes Leben beeinträchtigt ist, wenn du ein behindertes Kind bekommst.“ Mit dieser Angst müssen die Frauen leben, und sie müssen sie auf irgendeine Weise managen.

Pränataldiagnostik als Beruhigungspille?

Das Problem ist, dass die Frauen ihre Sicherheit nicht mehr aus sich selbst herausgewinnen. Dass sie sagen können, ich fühle mich wohl, mein Kind bewegt sich – also ist alles in Ordnung. Diese Sicherheit hat keine Frau mehr. Das eigene Gefühl und die Selbsteinschätzung zählen nicht mehr. Es muss erst eine Bestätigung des Arztes durch Ultraschall oder andere Untersuchungen vorliegen. Manche Hebammen sprechen schon davon, dass die Vorsorge einen Ritualcharakter für Frauen habe.

Haben Frauen denn überhaupt noch die Möglichkeit, diese Untersuchungen zu verweigern?

Ja, wenn sie sich ausschließlich für eine Hebammenvorsorge als Begleitung in der Schwangerschaft entscheiden. In dem Moment, wo sie sagen, ich gehe zu einer Frauenärztin oder einem Frauenarzt, ist ein Ultraschall obligatorisch. In den Mutterschaftsrichtlinien sind drei Ultraschalluntersuchungen vorgeschrieben. Die gehören zum Vorsorgepaket. Der Arzt muss sie machen, um überhaupt mit der Krankenkasse abrechnen zu können. Und sie können dem Arzt oder der Ärztin auch nicht sagen, schauen Sie sich beim Ultraschall bitte nicht die Nackendicke an. Darauf werden sich selbst die alternativsten Ärzte nicht einlassen.

Was besagt die Nackendicke?

Das ist ein neuer Marker, mit dem die Wasseransammlung im Nacken eingeschätzt wird. Das wird mittlerweile beim ersten Ultraschall von jedem Gynäkologen gemacht. Wenn das auffällig ist, erfolgt sofort eine Überweisung in ein Zentrum zur weiteren Abklärung, ob ein Herzfehler vorliegt oder eventuell gar ein erhöhtes Risiko für eine chromosomale Veränderung.

Was raten Sie den Schwangeren?

Wir können natürlich nicht die Lebenserwartungen einer erwachsenen Frau umdrehen. Das ist auch nicht unsere Aufgabe. Eine Hebamme wird in der Vorsorge auch darüber aufklären, dass es die Mutterschaftsrichtlinien gibt und welche Empfehlungen dort gegeben werden. Wir müssen vor allem auch schauen, welche Ängste die Frau hat. Wie kann sie damit umgehen? Braucht sie eventuell diese vermeintliche Sicherheit der vorgeburtlichen Untersuchungen?

Können sie diese Ängste denn abbauen?

Es gibt kein Rezept. Die Frauen müssen aber darin bestätigt werden, dass eine Schwangerschaft etwas ganz Normales ist. Dass 96 Prozent ohne Komplikationen verlaufen, dass eine Schwangerschaft nicht unter permanenter Beobachtung stehen muss. Wir Hebammen wissen alle, dass nur Frauen, die sich selbst und ihrem Körper vertrauen, ihre Kinder unproblematisch bekommen können. Wie soll eine Schwangere, der ständig vorgeschrieben wird, wie sie sich zu verhalten hat oder welche Untersuchungen dringend notwendig sind, voller Selbstbewusstsein in die Geburt reingehen, wenn ihr neun Monate lang vermittelt wurde, dass sie in einem risikoreichen Zustand ist, den sie selbst kaum beurteilen kann. Wir müssen uns doch auch fragen, warum in den Kliniken so viele komplizierte Geburten stattfinden.

Sie vermuten einen Zusammenhang zwischen Vorsorgeprogramm und Komplikationen im Kreißsaal?

Vielleicht ist das verlorene Selbstvertrauen der Frauen eine der Ursachen dafür. Die Angst vor den Schmerzen führt auch dazu, dass bei der Geburt zunehmend zur Periduralanästhesie gegriffen wird. Das heißt, der Beckenbereich wird durch eine Spritze in der Nähe des Rückenmarks vollständig betäubt.

Was spricht gegen eine schmerzfreie Geburt?

Wenn der Beckenbereich betäubt ist, kann die Muskulatur zur Unterstützung der Geburt nicht mehr so eingesetzt werden. Die Frauen haben einfach weniger Kraft und können ihre eigene Stärke nur bedingt erleben. Es gibt aber auch Stimmen, die sagen, es sei Blödsinn, was die Hebammen erzählen. Schmerzen seien grässlich, und Geburtschmerzen seien das Allergrässlichste. Das sollte man den Frauen möglichst flächendeckend ersparen. Andererseits habe ich aber auch schon Frauen getroffen, die sagen, ihre Mandeloperation sei schlimmer gewesen.

Werden die Schmerzbehandlungen noch zunehmen?

Eine Zeit lang habe ich das befürchtet. Aber ich glaube, wir haben den Höhepunkt bereits erreicht. Aber was derzeit zunimmt, ist die Wunschsektio, der Wunschkaiserschnitt. Schon im Vorfeld, also ohne dass ein medizinischer Grund vorliegt, sagen Frauen, „diese vaginale Geburt will ich mir nicht antun, das ist eine Situation, in die ich nicht kommen möchte“.

Aus Angst vor Schmerzen?

Nicht nur. Es ist auch die Ausnahmesituation, in die sich eine Frau bei der Geburt begibt. Sie muss ihrem Partner, wenn er dabei ist, und dem betreuenden Personal eine Seite offenbaren, von der sie nicht sicher ist, ob sie sich auch so zeigen möchte. Wenn ich die Situation in der Klinik betrachte, kann ich das zum Teil auch verstehen, dass sich Frauen in so einer Atmosphäre nicht völlig preisgeben lassen wollen. Um ein Kind zu bekommen, musst du dich aber fallen lassen. Erst wenn die Frau die Kontrolle abgeben kann, kommt das Kind.

Soll der Partner wieder draußen bleiben?

Nein! Die Alternative ist, eine ganz andere geschützte Atmosphäre für die Frauen zu schaffen. Eine, in der auch die Medizin nicht das letzte Wort hat. Im Grunde gehst du in die Klinik und lässt dich darauf ein, dass der Arzt bestimmt, was geschieht. Du musst dich auf einen Dammschnitt einlassen, auf einen Kaiserschnitt. Gegen das Argument, es sei unbedingt notwendig für das Kind, gibt es keinen Widerspruch. Selbst eine Hebamme, die ansonsten nicht auf den Mund gefallen ist, kann sich da kaum durchsetzen.

Gibt es Alternativen?

Hierzulande bisher nur in der außerklinischen Geburtshilfe. Aber es gibt Beispiele, dass es auch in der Klinik anders geht. In Dänemark und auch in Großbritannien gibt es von Hebammen geleitete Kreißsäle. Die Geburten sind dort weniger an ärztlichen Vorgaben orientiert, sondern berücksichtigen mehr die Bedürfnisse der Frauen. Aber dazu gehört auch eine Veränderung der Schwangerenvorsorge, bei der die Stärkung der Selbstkompetenz im Mittelpunkt steht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen