: Spotlights aus Afrika: Landjugend lernt
Elias kommt vom Land und lebt bei einem Marabut in der Stadt. Seine Eltern wollen, dass er selbst einmal Marabut wird und sie dann zu Hause in ihrem Dorf, 150 Kilometer nördlich von Niamey, unterstützt. Bis dahin lebt Elias vom Betteln und von Abfällen der anderen in der fremden Stadt
Seit Anfang des Jahres reist taz-Korrespondent Peter Böhm quer durch Afrika, und zwar von Ost nach West: von Somalia bis Senegal. Als Ziel hat er sich gesetzt , keinen Meter mit dem Flugzeug zurückzulegen. In unserer taz-Serie berichtet er regelmäßig von unterwegs – heute aus Niger.
In den tschadischen Städten fielen mir die Jungen, die in Massen mit ihren Plastikschüsseln durch die Straßen zogen, zuerst auf. In Nordnigeria standen sie, wenn ich irgendwo draußen aß, hungrig im Kreis und warteten auf Essensreste. Im Niger klauten sie mir, während ich noch kaute, das Fett, das ich vom Fleisch abgeschnitten hatte, sowie die Knochen vom Teller. Und in Mali und in Senegal gibt es auch unheimlich viele von ihnen, diesmal mit einem Eimerchen für das erbettelte Essen ausgerüstet. Deshalb war es schwer, die Almajiris – so heißen sie in Haussa – weiter zu ignorieren, und ich beschloss, mir einen dieser Koranschüler einmal genauer anzuschauen.
Der 13-jährige Elias lebt bei einem Marabut in einem Vorort der nigrischen Hauptstadt Niamey. Er besitzt eine zerrissene Hose und zwei alte Hemden. Er hat kein Buch, kein Handtuch, keinen Becher oder sonst irgendetwas, außer seinen Topf zum Betteln, den er mit einer Schnur als Stirnband über dem Rücken trägt. Schlafen tut er auf einer Bastmatte unter einem aus Ästen und Gras errichteten Dach im Hof der Schule. Nach dem Morgengebet hat er zwei Stunden Unterricht, isst das, was noch vom Vorabend übrig geblieben ist, hat wieder zwei Stunden Unterricht und läuft dann die vier Kilometer in die Stadt zum Markt. Nachmittags um fünf kommt er dann wieder zurück zu zwei weiteren Stunden Unterricht und geht danach wieder betteln.
Elias hat trotzdem noch Glück. Er muss nichts von den wenigen Geldstücken, die er manchmal bekommt, an seinen Marabut abgeben. Die Hilfsorganisationen in der Stadt können ein Lied davon singen, wie viele Betrüger es heutzutage unter den Marabuts gibt. Sie werden reich und fett und prügeln die Jungen, wenn sie nicht täglich mit genügend Geld zurückkommen.
Geprügelt wird auch in Elias’ Schule. Aber der Holzstock regiert nur, wenn die Kinder wieder einmal schwätzen und nicht aufpassen. Außer den Jungen, die von ihren Eltern aus den Dörfern hierher geschickt wurden, kommen auch die Kinder der Nachbarschaft. Ihre Eltern zahlen dafür 30 Pfennig pro Woche, die Eltern in den Dörfern zahlen nach der Ernte dann einen Sack Hirse.
Alle Kinder lernen, wie das seit Hunderten von Jahren in der Region Tradition ist, zuerst im Chor jede einzelne Sure des Korans auswendig, dann, wie man Arabisch liest und schreibt. Aber die Bedeutung von dem, was sie da vor sich hin kritzeln und daherplappern kennt keiner von ihnen.
Elias Eltern wollen, dass er selbst einmal Marabut wird und sie dann zu Hause in ihrem Dorf, 150 Kilometer nördlich von Niamey, unterstützt. Elias will das auch. Und der Marabut antwortet auf die Frage, ob Elias Talent habe, ob er es bis zum Marabut bringen könne: Ja, klar, er sei einer der folgsamsten Schüler, habe gut gelernt, die Autorität der Älteren zu akzeptieren, und habe deshalb gute Voraussetzungen.
Als ich in Elias’ Dorf fuhr, war ich nicht wenig überrascht, dass der Junge, der in Niamey täglich ums Überleben kämpft, bei der Landjugend zu Hause sehr gut angesehen ist. Er ist ein kleiner Held, denn er hat es geschafft. Viele haben es in der Hauptstadt probiert, das harte Leben jedoch nicht ausgehalten. Jetzt sind sie wieder bei Muttern, arbeiten drei Monate während der Regenzeit auf dem Feld und langweilen sich ansonsten.
In die örtliche Grundschule wurden sie noch nicht geschickt, denn die Dorfältesten haben erst vergangenes Jahr, nachdem die letzten Ernten schlecht ausgefallen waren, beschlossen, die Kinder des Orts dorthin zu schicken. Da war Elias schon zu alt für die Schule. Er wäre schon gerne hingegangen. Aber er nahm es wie alles in seinem bisherigen jungen Leben geduldig hin und sagt nur schulterzuckend: „Fragen Sie mich nicht, warum die Ältesten erst kürzlich so entschieden haben.“ PETER BÖHM
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