Die Verfechterin des Stucks

taz-Serie „Die Aktivisten“ (Teil 4): Annette Ahme, Vorsitzende der Gesellschaft Historisches Berlin, kämpft für eine historische Stadt. Wenigstens aber für die Wiederherstellung des alten Zentrums

von ULRIKE STEGLICH

März 1996, Berlin. Eine Podiumsdiskussion. Eine Frau beginnt zu reden – sie spricht von der historischen Stadt und dem historischen Zentrum. Sie redet beschwörend. Die Moderatoren werden unruhig. Die Frau spricht weiter, gerät in Emphase. Über lebenswerte Städte. Die Moderatoren versuchen, sie zu unterbrechen. Erfolglos. Die Frau spricht über die Zukunft ihrer noch ungeborenen Kinder. Irgendwann hört sie auf.

Die Frau heißt Annette Ahme. Man kennt sie als die Vorsitzende der Bürgerinitiative „Gesellschaft Historisches Berlin“. Wenn Annette Ahme so beschwörend redet, verdrehen manche die Augen: „Die spinnt.“ Andere sind begeistert: „Die spricht endlich mal aus, was wir denken. Was mal gesagt werden muss.“ Die „Gesellschaft Historisches Berlin“ zählt inzwischen 1.600 Mitglieder, drei- bis vierhundert davon außerhalb Berlins. Öffentlichkeitswirksam aktiv aber ist nur eine: die Vorsitzende Annette Ahme. Sie hat also einen Fulltimejob – ehrenamtlich.

Annette Ahme kämpft für eine historische Stadt. Wenigstens aber für die Wiederherstellung des „Historischen Zentrums“. Ihr Verein hat sich für den Lustgarten engagiert, fordert den Wiederaufbau des Schlosses und der Bauakademie, setzt sich für eine historische Gestaltung Unter den Linden ein. Ginge es nach Annette Ahme, hätten viele Bauten der Moderne keine Chance. Sie würden abgerissen. Dort entstünde dann wieder ein Berlin, wie es vor dem Krieg einmal aussah. Oder wie sich Annette Ahme vorstellt, dass es so vor dem Krieg einmal aussah.

Dabei sagt Annette Ahme viele Sätze, die auch Verfechter der Moderne sofort unterschreiben würden. Dass Christoph Mäcklers neues Lindencorso an der Kreuzung Friedrichstraße/ Unter den Linden ein „ völlig blödes Ding“ ist, dass die Hochhausplanung am Alexanderplatz katastrophal ist und die Kollhoff’schen Leibniz-Kolonnaden in Kudamm-Nähe „seelenlos und abstoßend“ sind. Sie kritisiert den Senatsbaudirektor Hans Stimmann und dessen Lieblingsarchitekten Hans Kollhoff – nicht weil diese zu Feinden der Moderne konvertiert, sondern weil sie ihr nicht konsequent genug sind. Hans Stimmann bekennt sich zwar zum barocken Stadtgrundriss, zu Traufhöhe und Parzelle, aber nicht, jedenfalls noch nicht richtig, zur entsprechend gestalteten Fassade. Und Kollhoff spreche zwar davon, den Leuten die so dringend gewünschte „Blümchentapete“ zu geben, aber „ich habe das bei ihm noch nicht gesehen“.

Tatsächlich ist Annette Ahme da weitaus konsequenter als Stimmann. Der hat in der Friedrichstraße die Kaiserzeit-Dimension wieder hergestellt – und sie mit kühlen Investorenblöcken bestückt. Ahme hätte anstelle des Lindencorsos lieber eine Rekonstruktion des Gebäudes, wie es in den 20er-Jahren noch stand. Sie bekennt sich zur Blümchentapete. „Ja. Ich scheue mich nicht zu sagen, jawohl, wir wollen auch Verzierungen.“ Sie schwärmt von Erkern, Verzierungen, Stuck.

Der kürzlich verstorbene Berliner Schriftsteller Klaus Schlesinger hat einmal beschrieben, wie erdrückt er sich gefühlt habe von Berlin, als es noch voll preußischen Stucks war. „Als junger Mann habe ich Stuck gehasst. Ich war erleichtert, als ich die ersten sachlichen Neubauten gesehen habe. Ich hatte nichts dagegen, dass Stuck abgeschlagen und durch Rauputz ersetzt wurde, weil Berlin eine stucküberladene Stadt war. Stuck war für mich auch Ausdruck des Alten, der Repression, des Schutzmannes, der Schule mit Prügelstrafe, des Strengen und Autoritären.“

Annette Ahme ist Schlesingers Kontrapart.

Sie ist 42 Jahre. Mit 18 kam sie aus Westdeutschland nach Kreuzberg, wo sie auch heute noch wohnt. Sie ist diplomierte Historikerin, hat eine Menge Jobs gemacht und sich in der Mieterbewegung engagiert. Welchen persönlichen Bezug hat eine 42-Jährige zum „historischen Zentrum“, und wo beginnt das „Historische“? Historisch, so die Antwort, „ist das Vorkriegsberlin – und das ist völlig unideologisch. Hier ist halt fünfzig Jahre später der Krieg zu Ende.“

In Westdeutschland hat sie die Sozialwohnungsbausiedlungen erlebt, offenbar in ihrer furchtbarsten Form. Seither assoziiert sie die Moderne mit Kaninchenställen: „Dass wir uns das verkaufen lassen, dass es modern und fortschrittlich sein soll, in Kaninchenställen zu arbeiten oder zu leben, das sehe ich überhaupt nicht ein.“ Dann kam sie in eine geteilte Stadt, deren historisches Zentrum sich auf der anderen Seite der Mauer befand. Wenn man Annette Ahme hört, ahnt man, welche Kränkung das für Westberlin gewesen sein muss.

„Ich dachte, nach dem Mauerfall stürzen sich alle darauf und stellen wieder ein historisches Zentrum her. Das hat ja immer gefehlt. Aber stattdessen wurde von Außenbezirken geredet und polyzentrischen Entwicklungsstärken, von notwendigen Neubauten und Wohngebieten.“ Da hat Annette Ahme dann die Bürgerinitiative gegründet. Für das historische Berlin. Denn: „Eine Stadt ohne historisches Zentrum ist keine Stadt.“

Annette Ahme wohnt konsequent. In einem stattlichen Kreuzberger Altbau, mit wildbewachsenem Hinterhof, in einer Wohnung mit Parkett und Säulen und altem Mobiliar. Nur das winzige Büro ist weiß und nüchtern. Annette Ahme ist ja keine altmodische Frau. Sie geht mit Handy, Freisprechanlage und PC selbstverständlich um.

Über die Historikerin kursierten schon böse Lästereien. Mutmaßungen, was wohl hinter ihrem vehementen Engagement stecken könnte. Dabei ist alles ganz einfach: Sie hat ihren Begriff von Ästhetik und Schönheit, und für den kämpft sie. Dass andere diesen Begriff nicht teilen können, versteht sie nicht. Die Stadt soll gut sein, häuslich, gemütlich. Vielleicht weil das Leben so nicht ist. Die hier und da laut werdende Häme hat sie ein bisschen dünnhäutig, vorsichtiger werden lassen. Überhaupt registriert Annette Ahme ein Defizit an Gefühl. „Alles, was ästhetisch zierend ist, wird in unserer heutigen Zeit als billiges Gefühl diffamiert.“

Wohnliche Stadt: Ginge es nach Annette Ahme, könnte jede zweite Straße grün sein. Man könnte sie an Bewohnergenossenschaften übertragen, nur noch Anliegerverkehr zulassen, ansonsten könnten die Anwohner dort Spielplätze oder Tennisplätze einrichten. Die Leute sollen sich wohl fühlen. Und die meisten Leute, die sich in der Stadt wohl fühlen, wohnen nun mal in Altbauquartieren – davon ist sie überzeugt. Wendet man ein, dass es doch aber in einer Großstadt sehr viele unterschiedliche Lebensmodelle, Ansprüche, Vertrautheiten, Ansichten gibt, ist das für sie kein Widerspruch: „Aber gerade für die unterschiedlichen Modelle sind Altbauten doch ideal.“ Und wo sie weg sind, könnten sie nachgebaut werden. Als hätte das Vorkriegsberlin nur aus stattlichen Bürgerhäusern bestanden – nicht auch aus überbelegten, muffigen Mietskasernen.

Es ist eine ungewöhnliche Mischung: Die naive Radikalität der Forderung nach Häuslichkeit. Vielleicht gingen auch deshalb die, die inzwischen im Grunde dieselben Positionen vertreten, offiziell immer ein bisschen auf Distanz. Annette Ahme, die früher für die Grünen in der Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung saß und von 1985 bis 1987 auch im Abgeordnetenhaus, kann sich heute politisch nirgendwo verorten. „Das ist ja mein Problem. Die belächeln uns alle nur.“ Und deshalb überlegt sie, ob es derzeit nicht sinnvoll wäre, eine eigene Partei zu gründen. Eine Partei, „die die Betonung auf das Aussehen der Stadt legt und das Leben darin, auf Verkehr, Wohnen, Arbeiten, Leben“.

Identifizieren kann sie sich hingegen mit der aus den USA kommenden und derzeit hier heiß umstrittenen Bewegung des „New Urbanism“ mit traditionalistischen Architektur- und Planungskonzepten. „Es gibt nur leider noch keine deutsche Sektion.“ Die scheint allerdings derzeit in Arbeit zu sein, und vielleicht wird Hans Stimmann so doch noch Annette Ahmes Verbündeter. Vielleicht.

Es gibt Situationen, da würden vielleicht sogar die Verfechter der Moderne mit Annette Ahme ein Bündnis eingehen. Etwa wenn sie fragt, ob man noch einmal eine Initiative gegen das geplante Kollhoff’sche Hochhausgewitter am Alexanderplatz starten sollte. Die Vorstellungen, wie es dann weitergehen soll, würden stark auseinander driften.

Annette Ahmes Vision: „Dieses historische Zentrum ist möglich. Aber das eigentliche historische Berlin ist eigentlich erst in fernerer Zukunft möglich. Nämlich rund um die Marienkirche.“ Zuerst müsste jedoch das Nikolaiviertel „richtig gut gemacht werden: zum Beispiel die Betonbauten mit Putzfassaden herrichten.“ Die Rathauspassagen müssten „natürlich weg“. Und rund um die Marienkirche müsste wieder ein Stadtviertel auf dem historischen Grundriss hin, mit siebenstöckigen Bürgerhäusern.

Es ist, als versuchte Annette Ahme, die Großstadt zu bändigen. Mit Blümchentapete.