: Fluchtgefahr wegen bestürzter Reaktion auf Urteil?
Gericht lehnt Aufhebung des Haftbefehls gegen den Vietnamesen Tung D. ab. Anwältin vermutet Angst vor „fehlendem Verständnis in Bernsdorf“
BERLIN taz ■ Der 16-jährige Vietnamese Tung D., der im Mai zu viereinhalb Jahren Jugendhaft verurteilt wurde, bleibt in Untersuchungshaft. Im Dezember 2000 hatte der damals 15-Jährige im sächsischen Bernsdorf einen 21-jährigen Rechten erstochen und einen 20-Jährigen schwer verletzt, nachdem er von beiden beleidigt und geohrfeigt worden war (taz berichtete). Anwältin Petra Schlagenhauf hatte Beschwerde gegen den Gerichtsbeschluss eingelegt, den Haftbefehl aufrechtzuerhalten, und eine Aufhebung beziehungsweise Außervollzugsetzung beantragt.
Die Begründung: Der ursprüngliche Haftbefehl stützte sich auf den Vorwurf des Totschlags und des versuchten Totschlags. Verurteilt wurde Tung D. aber wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Fluchtgefahr bestehe nicht, weil er eine enge Bindung zu seinen Eltern habe, die mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis in Deutschland leben, und er hier eine Ausbildung machen will. Und: Bei Rechtskraft des Urteils ist zu erwarten, dass Tung D. nach einem Drittel der Jugendhaft entlassen werden könnte. Unter Anrechnung der Untersuchungshaft blieben dann noch knapp zehn Monate Haft.
Vor wenigen Tagen hat das Landgericht Bautzen den Antrag abgelehnt. Begründung: Fluchtgefahr. Nach Ansicht des Gerichts ist die „Verlockung“ gegeben, sich dem weiteren Verfahren durch Flucht nach Vietnam zu entziehen. Dazu werden „Indizien“ vorgebracht, die zum Teil aberwitzig sind: Tung D. habe sich wegen der jahrelangen ausländerfeindlichen Attacken in Bernsdorf ohnehin nicht wohl gefühlt in Deutschland; sein Vate, in dem er „in erster Linie seine Bezugsperson“ sehe, sei nur „gering verwurzelt“ in Deutschland und nach dem Umzug in ein anderes Bundesland sei das „noch beeinträchtigt“ worden. Die Eltern hatten aus Angst vor Racheakten Bernsdorf verlassen. Selbst die „bestürzte, äußere Reaktion“ D.s bei der Urteilsverkündung wird angeführt. Last but not least argumentiert das Gericht mit der nach Verbüßung der Strafe „zwingenden“ Abschiebung. „Dagegen werden wir uns mit allen rechtlichen Mitteln wehren“, so seine Anwältin.
Die Staatsanwaltschaft hatte in einer Stellungnahme erklärt, dass nicht auszuschließen sei, dass Tung D. in einer ähnlichen Konfliktlage wieder in affektive Erregung geraten und vergleichbar handeln könnte. Zumindest dieser Punkt taucht in dem Beschluss nicht auf, der nun dem Oberlandesgericht (OLG) Dresden zur Prüfung vorliegt. Anwältin Schlagenhauf äußert in einem Schreiben an das OLG die Vermutung, dass das Gericht in Bautzen befürchte, „man werde für eine Haftentlassung des Angeklagten in Bernsdorf und Umgebung kein Verständnis haben“.
B. BOLLWAHN
DE PAEZ CASANOVA
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