: Auf den Straßen von Belarus
Wo gibt es noch richtige Schutzwälle mit Stacheldraht und Schlagbaum? Mit Uniformen und Schirmmützen groß wie Fahrradräder? Mit entschlossenen Polizisten, die die Regeln des internationalen Straßenverkehrs beherrschen? Und gewissenhaften Helfern mit roter Armbinde? Auf dem Weg nach Frankreich? Oder nach Österreich? Schweiz etwa? Weit gefehlt
von THOMAS GERLACH
Grenz- und Uniformfetischisten fahren in den Osten, am besten mit dem Auto in die belorussische Hauptstadt Minsk, immer auf Straße M 1 oder – auf Russisch – M Adin. Präsident Lukaschenko bemüht sich täglich um die Sicherheit im Lande. Sein Einsatz trägt Früchte.
Ein Erfahrungsbericht: Ich bin zehn Meter auf belorussischer Erde. Ein junger Uniformierter krabbelt aus einem Wachhäuschen heraus: „So so. Haben Sie das Stoppschild nicht gesehen?“ – „Wieso Stoppschild? Hier steht doch ein Schlagbaum. (Schlagbaum heißt auf Russisch Schlagbáum, Betonung auf der zweiten Silbe) Ich kann doch gar nicht weiterfahren!“ – „Ja. Aber dort steht ein Stoppschild!“ – „Richtig.“ – „Was zahlen Sie denn in Deutschland, wenn sie ein Stoppschild missachten?“ – „Weiß nicht. In Deutschland achte ich auf Stoppschilder.“ – „Und bei uns?“ – „Ich habe nur Ihren Schlagbaum gesehen, ich dachte, das Stoppschild gehört dazu. Das sind doch nur fünf Meter.“ – „Da ist ein Stoppschild!“ – „Richtig.“ – „Haben Sie Geld dabei?“ – „Ich habe kein belorussisches Geld.“ – „Und anderes Geld?“ – „Auch nicht.“ – „Das kann doch nicht sein! Machen Sie bitte den Kofferraum auf.“
Im Kofferraum liegen Reisetasche, Proviant, Gastgeschenke und zwei Stiegen Bier. Ausdauernd blickt der Uniformierte in das Hinterteil des Autos. „Vielleicht kann ich bei Ihnen ja mit Bier bezahlen?“ – „Nein, nein! Was soll man machen mit Ihnen?“ – „Ich weiß nicht.“ – „Sie haben kein Geld bei sich?“ – „Nein.“ – „Wirklich nicht? Das kann doch nicht sein!“ – „Nur ein bisschen.“ – „Zwanzig Mark!“ – „Zehn!“ – „O.k.“
Hundert Meter auf belorussischer Erde, das nächste Stoppschild, der nächste Schlagbaum, ohne Aufforderung fahre ich keinen Zentimeter weiter, blicke mich um, eine Frau schaut aus einem Versicherungscontainer. „Kann ich weiterfahren?“ – „Ich weiß nicht.“ – „Muss ich etwas bezahlen?“ – „Vielleicht!“ – „Wer weiß das denn?“ – „Parken Sie hier, und gehen Sie zu dem Mann in den Container nebenan!“
Hinter einem Schreibtisch sitzt ein älterer Mann in Uniform, neben sich das offizielle Bildnis des Präsidenten Lukaschenko an der Wand. „Guten Tag! Muss ich irgendetwas bezahlen, vielleicht für die Ökologie?“ – „Nein, nein, nicht für die Ökologie, das zahlen Sie bei der Ausreise. Wohin fahren Sie denn?“ – „Nach Minsk.“ – „Nicht weiter? Nicht nach Moskau?“ – „Nein, nein, nur nach Minsk.“ – „Dann brauchen Sie nichts für den Transit zu zahlen.“ – „Gut. Aber wie viel muss ich denn für die Ökologie zahlen?“ – „Na, so ungefähr zehn Mark.“ – „Mehr muss ich nicht bezahlen?“ – „Na vielleicht fünfzehn Mark, aber nicht mehr.“ – „Gut.“ – „Hören Sie! Verkaufen Sie mir eine Dose Bier!“
Neben dem Antlitz seines Präsidenten wird ein altgedienter Beamter schwach. Er weiß, dass Reisende aus Deutschland immer Dosenbier im Kofferraum haben. „Nur eine?“ – „Ja, ja. Für mehr reicht mein Geld nicht!“ Ich hole eine Büchse. „Hier. Auf Ihre Gesundheit! Nein, nein, behalten Sie Ihr Geld.“ – „Danke!“
Hundert Kilometer auf belorussischer Erde, ich werde an einem GAI-Posten gestoppt. GAI ist das Kürzel für „Staatliche Automobilinspektion“, die belorussische Verkehrspolizei. Die Posten waren wie Perlen auf einer Schnur alle 25 Kilometer auf den Hauptstraßen der Sowjetunion verteilt. Sie gehörten zum Überwachungsapparat. Nach 1991 blieben die meisten in Belarus unbesetzt, sie verfielen. Seit dem Amtsantritt von Aleksandr Lukaschenko wurden die Wachposten renoviert und wieder besetzt. Die Schlagbäume sind tagsüber geöffnet, doch man darf sie nur mit vierzig Stundenkilometern durchfahren und kann herausgewunken werden. Nachts muss man anhalten und die Papiere am Posten vorlegen, oder es wird zumindest die Autonummer aufgeschrieben.
Als ich drei oder vier ohne Probleme durchfahren habe, werde ich gestoppt. Offenbar als der Wachhabende sieht, dass ich ein deutsches Nummernschild habe. Ausländer werden gern angehalten und können gut unterschieden werden. Die belorussischen Nummern haben rote Ziffern und Buchstaben auf weißem Grund. Die Milizionäre tragen graue Kampfuniformen, Schirmmützen, Gummiknüppel und Pistole, manchmal auch Maschinengewehre.
Mich hält ein Herr in Zivil mit roter Armbinde an. „Guten Tag! Zeigen Sie bitte Ihre Papiere!“ – „Moment bitte. Hier.“ – „Aha. Danke. Haben Sie auch einen Ognetuschitel bei sich?“ – „Einen Ognetu-was?“ – „Einen Ognetuschitel! Den brauchen die Fahrzeugführer in Belarus, wenn es brennt!“ – „Ach so! Einen Feuerlöscher!“ – „Ja! Haben Sie ihn?“ – „Nein. In Deutschland braucht man keinen Feuerlöscher.“ – „Sie nehmen am internationalen Straßenverkehr teil und müssen sich nach dessen Regeln richten! Was soll ich mit Ihnen machen?“ – „Ich weiß nicht.“ – „Haben sie belorussisches Geld bei sich?“ – „Nur ein bisschen. Ich habe noch nicht getauscht.“ – „Kommen Sie bitte mit, ich bringe Sie zum Diensthabenden. Schauen Sie, mit diesem Deutschen habe ich auch Probleme.“
In einem weißen Lada mit Hamburger Nummer ist eine ganze Familie eingepfercht, riesige Kopfkissen inklusive. Der Vater sieht aus wie Solschenizyn, spricht besser Russisch als Deutsch und hat ein weitaus größeres Problem, er hat an seinem Auto kein Nationalitätenkennzeichen. Einen Feuerlöscher hat er dabei. Ich steige die Stufen zu einem GAI-Posten hinauf.
Das Haus mit seinen großen Fenstern ähnelt wie alle GAI-Posten einem Flugplatztower. Oben sitzt der Diensthabende, ein junger Bursche in Uniform, über sich das Abbild von Felix Edmundowitsch Dserschinski, dem obersten aller Tschekisten, in Intarsien gearbeitet. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Telefone.
„So, Sie haben keinen Feuerlöscher.“ – „Ja.“ – „Haben Sie Geld dabei?“ – „Wenig. Ich habe noch nichts getauscht.“ – „Zahlen Sie zweitausend Rubel!“ – „Zweitausend?! So viel habe ich längst nicht!“ – „Was soll ich mit Ihnen machen?“ – „Ich weiß nicht.“ – „Gut. Fahren Sie drei Kilometer weiter, dort ist eine Tankstelle. Da können Sie Geld tauschen. Nebenan ist ein Autoservis, da kaufen Sie einen Feuerlöscher. Ich behalte solange Ihre Fahrerlaubnis, Sie kommen dann hierher zurück!“ – „Und Sie bleiben auch hier?“ – „Ja, natürlich!“ – „Und ich kann auch hier auf der Hauptstraße einfach wenden?“ – „Ja, ja.“
Ich fahre zur Tankstelle, die Kassiererin tauscht schwarz fünfzig Mark in neuntausend belorussische Rubel um (ein schlechter Kurs) und schickt mich nebenan zum Autoservis. Dort liegen Karosserieteile von Wolga und Moskwitsch, Bremsscheiben. Gelangweilte Verkäuferinnen schütteln Kunden ab. Nein, Feuerlöscher gibt’s nicht. Aber vielleicht nebenan. Dort ist ein privater Laden im Container. Bunte Poster mit Monroestoßdämpfern, doch keine Feuerlöscher.
Ich kehre um. „Was? Keine Feuerlöscher?“ – „Nein. Im Laden nicht und im Container auch nicht. Und in der Tankstelle auch nicht.“ – „Hm.“ Er greift zu einem der Telefonhörer, wählt eine Nummer. „Hallo, bin ich dort im Autoservis? Hören Sie, Fräulein, haben Sie Feuerlöscher? . . . Nein?“ Er legt auf. „Gut. Zahlen Sie fünfhundert Rubel.“
Er schreibt den Strafzettel aus. „Sie sind aus Leipzig?“ – „Ja.“ – „Ich bin in Leipzig geboren!“ – „Ja, wirklich?“ – „Nein, warten Sie, es war nicht Leipzig, es war, Moment, es war Weimar! Ja, richtig, Weimar!“ – „Weimar ist auch eine sehr schöne Stadt!“ – „Also, kaufen Sie sich einen Feuerlöscher!“ – „Wo denn?“ – „Na, in einer Tankstelle. Oder in einem anderen Autoservis!“ – „Kommen denn noch welche bis Minsk?“ – „Aber natürlich! Kaufen Sie sich einen! Gute Fahrt!“ – „Danke!“
Vor mir liegen noch 250 Kilometer belorussischer Erde bis Minsk und noch mindestens zehn GAI-Posten. Was ist, wenn der Diensthabende mit einem seiner Telefone seine Kollegen anruft? Ich wäre ein gefundenes Fressen für unterbezahlte belorussische Milizionäre. Er tut es nicht.
Ich passiere neun von zehn Posten unbehelligt, an einem werde ich zwar angehalten, doch der Uniformierte begnügt sich mit den Papieren. Obwohl ich an jeder Tankstelle halte, einen Feuerlöscher bekomme ich nicht zu Gesicht.
Bis kurz vor Minsk. Eine Tankstelle hat Benzin, ich tanke. „Haben Sie Feuerlöscher?“ – „Nein!“ – „Nein?“ – „Warten Sie!“ Es vergehen fünf Minuten. „Ja, wir haben im Laden Feuerlöscher.“ – „Sehr schön!“ – „Aber dort ist jetzt Mittagspause!“ – „Da ist gar nichts möglich? Keine Ausnahme?“ – „Aber, ich bitte Sie! Wo denken Sie hin? Jetzt ist Mittagspause!“ – „Aber ja, natürlich! Mittagspause ist Mittagspause!“
Ich warte eine halbe Stunde, der Laden öffnet, und ich bin Besitzer eines italienischen Feuerlöschers für umgerechnet zwanzig Mark. Auf den verbleibenden Kilometern keine außergewöhnlichen Vorkommnisse. Zufrieden und unbehelligt passiere ich den hauptstädtischen GAI-Posten von Minsk. Aleksandr Lukaschenko hat mich nicht enttäuscht. Die Straßen sind sicher. Es könnte eine Touristenattraktion sein.
THOMAS GERLACH, 36, ist Agrotechniker/Mechanisator, Diplomtheologe und freier Journalist. Seit 1991 besucht er regelmäßig Minsk. Allerdings nicht immer mit dem Auto
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