Der kleine Dienstag hütet das Telefon

Vor dreizehn Jahren wurde in Berlin ein Bild des Malers Lucian Freud entwendet. Nun lässt der Künstler per Fahndungsplakat nach dem Werk suchen. Pate für die Aktion stand Erich Kästners „Emil und die Detektive“. Und wie im literarischen Vorbild verwandelt diese ein Verbrechen in ein Abenteuer

Nächstes Jahr wird Freud 80. Londons Tate Gallery bereitet eine Retrospektive vor

von PATRIK SCHWARZ

„Parole Emil!“, riefen die Jungen, dass der Nikolsburger Platz wackelte und die Passanten Stielaugen machten. Emil war direkt glücklich, dass ihm das Geld gestohlen worden war.“

Erich Kästner,

„Emil und die Detektive“

Dem Maler Lucian Freud wurde ein Bild gestohlen. Jetzt hat er eine Suche gestartet – und damit eine Kunstaktion, die es ohne den Diebstahl nie gegeben hätte. Er könnte direkt glücklich sein.

Die Aktion spielt in Berlin, und gleichzeitig mit dem Ort Berlin. Hier wurde Lucian Freud, der Enkel Sigmund Freuds, geboren, von hier wurde er mit seinen Eltern nach England in die Emigration getrieben. Hier gastierte vor 13 Jahren die Ausstellung, die dem Briten den internationalen Durchbruch bescherte. Und ausgerechnet hier wurde, am 27. Mai 1988, aus einer Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie in einem unbewachten Moment jenes Porträt gestohlen, das Freud von seinem langjährigen Freund und Kollegen Francis Bacon gemalt hatte.

Für seine Suche nach dem Werk greift Lucian Freud nun auf ein Vorbild aus einem der frühesten und dichtesten Berlin-Bücher des 20. Jahrhunderts zurück: „Emil und die Detektive“. Dem britischen Guardian erzählte Freud, er habe sich von Kindheitserinnerungen an das Buch inspirieren lassen, in dem über Nacht die Stadt mit Plakaten zugepflastert werde. Nächstes Jahr wird Freud 80, und die Londoner Tate Gallery wird ihn mit einer großen Retrospektive ehren. Das fehlende Bild, kaum größer als eine Postkarte, würde dort bitter vermisst.

Nun hängt seit einer Woche in ganz Berlin ein Fahndungsplakat an den Litfaßsäulen und verwirrt die Betrachter, unterscheidet es sich doch in subtilen Kleinigkeiten von einschlägigen Aushängen der Polizei. Der Schriftzug ist rot, die Type altertümlich, die Überschrift englisch: „Wanted“ steht über der Schwarzweißzeichnung eines Mannes mittleren Alters. Doch nur wer näher tritt, kann lesen, dass nicht der Abgebildete gesucht wird, sondern das Abbild selbst.

Wie in den 20er-Jahren sollte für die Aushänge nur billigstes Papier verwendet werden, erbat sich Freud und plädierte für wildes Plakatieren, ohne Fragen und Lizenz. Die Drucker kamen mit den dünnen Fasern nicht klar, und das British Council, die offizielle Kulturvertretung des Königreichs im Ausland, wollte keinen Ärger wegen illegaler Poster. Jetzt hängen 2.500 Exemplare, ganz legal und auf gutem Papier, an den Litfaßsäulen der Stadt. Die Kosten trägt ein ungenannter Mäzen.

Auch auf der berühmten Titelillustration von „Emil“ spielt eine Litfaßsäule eine prominente Rolle – hinter ihr spionieren zwei Jungs dem Herrn mit dem steifen Hut nach. Freud treibt mit den Säulen sein eigenes Spiel. Das Plakat lobt in großen Lettern eine „Belohnung bis zu DM 300.000“ aus. Doch die wichtigere Information wird unterschlagen: Die Plakate sind von Lucian Freud persönlich gestaltet, die Auflage ist strikt limitiert, und wenn ein Großteil von ihnen längst wieder überklebt sein wird, sind die wenigen Restbestände echte Raritäten auf dem Kunstmarkt.

In jedem Fall bewegt die Aktion nicht nur die Diebe, die Mitwisser und die potenziellen Zufallsfinder. Sie spricht auch die große Mehrheit der Unbeteiligten an – ganz so wie zuvor das verschwundene Bild selbst. Und ähnlich wie Emils Jagd nach dem Herrn mit dem steifen Hut ist die Suche nach Francis Bacon eine Einladung, mitzuspielen.

Das Plakat nennt die Berliner Nummer 3 11 0 99-40. Wer anruft, landet in London. Am anderen Ende meldet sich Mr. Mark Dalrymple. Wie jeder richtige Detektiv nennt er sich nicht Detektiv, sondern stellt sich als „Berater“ des British Council vor: Er nehme sachdienliche Hinweise entgegen. „Emil“-Leser kann das nicht wirklich überraschen. Die permanent bemannte Kommunikationszentrale gibt es auch in Kästners Kinderkrimi – „der kleine Dienstag“ wird dazu verdammt, das Telefon zu hüten. Zu konkreten Erkenntnissen mag Mr. Dalrymple sich nicht äußern. Hinweise gab es jedenfalls schon einige. Plakatbestellungen interessierter Berliner Flaneure ebenfalls, aber für die erklärt sich der Detektiv nicht zuständig.

Wirkung entfaltet Freuds Aktion durch ihre Verspieltheit. Wie 70 Jahre vor ihm Erich Kästner verwandelt Lucian Freud ein Verbrechen in ein Abenteuer. Durch den Rückgriff auf eine Ästhetik der klassischen Moderne wird das Plakat zum Zitat aus einer anderen Zeit. Das nostalgische Element hebt es ab etwa von der Gnadenlosigkeit der RAF-Plakate („Vorsicht, Schusswaffen!“), die dem Betrachter mit tödlichem Ernst begegneten.

Wie Emil sich um seinen blauen Anzug sorgt, der keine Flecken bekommen darf, bemüht Lucian sich bei der Ganovenjagd vor allem um Haltung: „Würde, wer dieses Bild hat, mir freundlicherweise erlauben, das Gemälde in meiner Ausstellung in der Tate im nächsten Juni zu zeigen?“

Eine Frage bleibt allerdings offen. Lucian Freud ließ sich von Kindheitserinnerungen an „Emil und die Detektive“ inspirieren, wo über Nacht die Stadt mit Plakaten zugepflastert wird. Doch in Kästners Buch kommt eine solche Szene gar nicht vor. Steht also am Anfang der Aktion eine freudsche Fehlleistung?