: „Das Chaos auf den Bahnsteigen“
Pflichtbuchungen, Preiserhöhungen für Pendler, unflexible Reisezeiten – Helmut Holzapfel, Professor für Verkehrsplanung, hält das neue Tarifsystem der Bahn für kundenfeindlich. Unternehmen sollte lieber Doppelstockwagen oder längere Züge einsetzen
Interview KATHARINA KOUFEN
taz: Eine Tarifreform, die Pendler und Spontanfahrer bestraft – wer denkt sich so was aus?
Helmut Holzapfel: Der Bahnchef und seine Berater. Das sind Leute, die starke Beziehungen zur Lufthansa haben, die teilweise aus dem Flugverkehr kommen und nun die Bahn so organisieren wollen wie den Flugverkehr.
Das heißt?
Der Kunde wird – will er Preisreduzierungen in Anspruch nehmen – zu Vorbuchungen gezwungen.
Übersetzen Sie das Tarifsystem mal auf die Autofahrer!
Wer in zwei Wochen wegfahren will, muss seine Autofahrt vorher anmelden. Sie müssen dann zu einer ganz bestimmten Zeit fahren. Kommt Ihnen etwas dazwischen, verlieren Sie die relativ hohe Anmeldegebühr. Es kann aber auch sein, dass Ihnen der Computer sagt: Diesen Freitag dürfen Sie nicht reisen, weil die Autobahn schon ausgebucht ist. Fahren Sie trotzdem, müssen Sie eine Strafgebühr von 100 Mark zahlen. Das ist nicht sehr kundenattraktiv.
Wer profitiert von so einer Tarifreform?
Kunden, die einmalig und zu einem bestimmten Zeitpunkt reisen wollen, also ein kleiner, exklusiver Kreis. Die Bahn meint, sie könne mit dem Frühbuchersytem die Auslastung der Züge besser steuern, mit dem Ziel, dass die Züge am Wochenende leerer sind. Werden diese Pläne umgesetzt, wird das auch tatsächlich gelingen – weil die Leute dann wieder mehr Auto und weniger Bahn fahren. Volle Züge resultieren doch nicht daraus, dass Reisende gern in vollen Zügen sitzen, sondern dass viele zu diesen Zeiten fahren müssen.
Dabei haben wir doch schon im VWL-Grundstudium gelernt: Steigt die Nachfrage, weitet der Unternehmer das Angebot aus ...?!
Ja! Das wäre die andere, die richtige Strategie: längere Züge oder Doppelstockwaggons am Wochenende einzusetzen, also mehr statt weniger Leute mitzunehmen.
Mehdorn ist ein erfahrerener Manager – der denkt sich doch was bei dieser Reform.
Er meint, das Flugzeug sei ein großes Vorbild für die Schiene, weil das Flugzeug eben Gewinn macht. Das ist eine sehr kurzsichtige Herangehensweise. Das Flugzeug ist mit der Bahn überhaupt nicht vergleichbar.
Warum nicht?
Erstens gibt es kaum Leute, die täglich hin- und herfliegen. Zweitens hat man bei Flugreisen viel einfachere Umbuchungsmöglichkeiten. Drittens muss man eine Stunde vor Abflug da sein. Die Bahn hingegen ist ein alltägliches Verkehrsmittel, für den täglichen Gebrauch der Pendler und der Stammkunden.
Wie wird der tägliche Bahnbetrieb aussehen, wenn das neue Tarifsystem tatsächlich so kommt, wie es geplant ist?
Die Bahn denkt, das würde wunderbar funktionieren, weil alle Leute sich zwei Wochen vor Reisebeginn anmelden und dann auch einen günstigen Tarif haben. In der Praxis wird das aber so aussehen: Sie buchen vor, ein Zug hat Verspätung, Sie erreichen Ihren Anschluss nicht. Die Tickets gelten aber nur in den vorgebuchten Zügen, Sie kommen also nicht weiter. Was dann?
Also erwartet uns demnächst das Chaos auf den Bahnsteigen?
Ja, und was für ein Chaos! In Großbritannien hat man ein ähnliches Tarifsystem eingeführt – und musste schließlich wieder Sperren vor den Bahnsteigen aufstellen. Die sollen verhindern, dass Leute in den falschen Zug einsteigen – in einen, den sie nicht gebucht haben. Gerade wenn Züge Verspätung haben, tendieren die Leute dazu, einen anderen Zug zu nutzen. Solche Leute müssen dann alle im Zug nachbezahlen – oder zum Aussteigen gezwungen werden. In England müssen Sie nun Ihr Ticket zweimal vorzeigen – einmal, wenn Sie auf den Bahnsteig wollen, einmal im Zug. Ich weiß nicht, wie die Bahn mit diesem Aufwand fertig werden will. Wir hatten schon so einen kleinen Feldversuch bei den Sonderzügen zur Expo – und da hat es schon genug Ärger gegeben.
Eines der Mehdorn-Argumente: Er will mit den neuen Superrabatten auch Autofahrer auf die Schiene locken. Wird das funktionieren?
Nein. Ein Autofahrer fährt vielleicht dann mit der Bahn, wenn sein Auto kaputt ist. Das weiß er aber nicht zwei Wochen vorher. Wenn er sich dann im letzten Moment zu einer Bahnreise entscheidet, erhält er keinen Rabatt. In einer Gesellschaft mit hohen Flexibilisierungsgrad, in der Sie schnell reagieren müssen, ist das der Feind einer kundenfreundlichen Lösung. Ich glaube nicht, dass Leute mit einem autoorientierten Lebensstil sich so zum Umsteigen auf die Bahn bewegen lassen.
Was sollte man an der Reform unbedingt ändern?
Die Bahncard sollte mit ihrer 50-Prozent-Ermäßigung erhalten bleiben, ja sogar ausgeweitet werden, etwa in Richtung einer Mobilitätskarte. Mit der würde man in allen möglichen anderen Bereichen Ermäßigungen erhalten, etwa wenn man ein Auto mietet. Mit der Bahncard werden die Vielfahrer belohnt – das sollte beibehalten werden!
Gibt es noch eine Möglichkeit, diese Reform zu stoppen?
Ja. Ich hoffe auf die Bundesländer: Die müssen der Reform zustimmen. Und Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel hat schon Protest angekündigt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen