: „Sanktionen gegen Algerien“
In Algerien demonstrieren seit über zwei Monaten Hunderttausende für mehr Demokratie. Die Schwester des 1998 ermordeten kabylischen Sängers Lounès Matoub fordert Europa auf, Algerien stärker unter Druck zu setzen
taz: Vor drei Jahren wurde Ihr Bruder, der Sänger Lounès Matoub, in der Kabylei ermordet. Sie sind die Präsidentin der Stiftung, die seinen Namen trägt. Trotzdem waren Sie in dieser Woche nicht dabei, als Zigtausende in Tizi Ouzou wie jedes Jahr für die Aufklärung des Verbrechens und für Gerechtigkeit demonstrierten. Warum?
Malika Matoub: Aus Sicherheitsgründen. In der Kabylei wird geschossen, und auf unsere Stiftung wird sehr viel Druck ausgeübt. Wir wollten vermeiden, dass ein neuer Zwischenfall die Situation weiter verschärft. Deswegen habe ich an dem Gedenkakt in Paris teilgenommen.
Wie sieht der Druck auf Sie aus?
Unsere Stiftung stört in Algerien extrem. Besonders die Machthaber befürchten, dass es eines Tages doch zu Ermittlungen kommen könnte. Ein Entsandter des RND (der Mehrheitspartei in Algier, deren Präsident der algerische Justizminister ist) hat mir gesagt, ich sollte aufhören, von der „Affäre Matoub“ zu reden und sie zu internationalisieren. Als Gegenleistung für mein Schweigen würde man mir die Namen der Mörder meines Bruders „geben“. Darunter seien auch „Patrioten“.
Warum kommt die Justiz mit den Ermittlungen über den Mord nicht weiter?
In Algerien ist die Justiz nicht unabhängig. Im Fall von Lounès hat es immer noch keine echten Ermittlungen gegeben. Keine ballistischen Studien, keine Rekonstruktion, keine Vernahme aller Augenzeugen. Die Anklage fußt auf Geständnissen, die zwei Männer, darunter ein reumütiger Islamist, gemacht haben – in Polizeihaft.
In Algerien hat es in den letzten Jahren zahlreiche Morde gegeben – darunter auch an bekannten Personen. Warum ist ausgerechnet Ihr Bruder, ein Sänger und Poet, so populär?
Lounès war ein Aufklärer. Er hat mit dem Wort gearbeitet. Er benutzte keine Metaphern, sondern schrieb Texte wie ein Reporter. Es gibt Kinder, die fünf oder sechs Jahre alt sind und seine Botschaft sehr gut verstehen. Jenseits der kabylischen Frage war er ein demokratischer Aktivist. Und seine Opposition gegen das autoritäre Regime und gegen den Fundamentalismus, den das Regime hervorgebracht hat, war seit vielen Jahren bekannt. Schon an dem Tag, als er starb, sind die Leute auf die Straße gegangen und haben den Slogan gerufen: „Macht – Mörder“.
Die neue Protestbewegung kommt aus der Kabylei. Sie trägt einen ermordeten kabylischen Sänger auf ihren Fahnen. Ist sie separatistisch?
Nein. Mein Bruder ist in der algerischen Fahne beerdigt worden. Und er hat einen universellen demokratischen Kampf geführt. Natürlich steckt die kabylische Frage mit drin. Aber die Jugendlichen auf der Straße haben ihre Bewegung nie als separatistisch verstanden. Die Proteste haben sich längst in den Osten des Landes ausgeweitet. Allerdings tun die Machthaber alles, um die Bewegung auf die Kabylei zu begrenzen. Für sie ist es einfacher, von einem ethnischen Problem zu sprechen, als von einem demokratischen Problem der ganzen Gesellschaft und von der Neugründung des algerischen politischen Systems.
Wer sind die Alliierten der algerischen Machthaber?
Das hat man bei den Besuchen von Präsident Bouteflika in Frankreich und anderswo gesehen: In Europa genießt Bouteflika große Unterstützung. Alle haben geglaubt, dass er Frieden nach Algerien bringen würde. Aber es kann keinen Frieden mit einer Macht geben, die Kinder ermordet. Man kann Frieden nicht auf der Straffreiheit für Verbrecher aufbauen. Die Täter und Auftraggeber von Morden müssen zahlen. Bouteflikas Politik ist gescheitert. Das Regime verweigert den Dialog mit seiner Bevölkerung und kennt nur die Sprache der Waffen. Darüber darf Europa nicht hinwegsehen.
Was erwarten Sie von Europa?
Stellen Sie Sich vor, so etwas wie in der Kabylei würde in einer europäischen Provinz geschehen. Europa muss aufhören, galant zu den algerischen Generälen zu sein sein. Statt sie zu unterstützen, sollte es politische und wirtschaftliche Sanktionen gegen das Regime verhängen. Das würde reichen.
Wie viel Zeit geben Sie Präsident Bouteflika noch?
Bouteflika interessiert mich nicht als Person. Das ist das Problem eines Systems, das ihn an die Macht gebracht hat.
Haben Sie keine Angst, dass sich die Situation in Algerien zu einem Bürgerkrieg zuspitzt?
Da sagt ein Volk: „Wir sind eh tot.“ Was wollen Sie tun, wenn eine Bevölkerung auf der Straße mit leeren Händen nach Gerechtigkeit und Demokratie verlangt und es als Antwort Tote und Verschwundene gibt? Es sind Algeriens Machthaber, die auf eine Verschlimmerung der Lage setzen.
INTERVIEW: DOROTHEA HAHN
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