: Die Stunde der Bewusstseinsbildner
Minerva ohne Selbstzweifel: Das Kolloquium „Mythos, Bilder und Konzepte im 17. Jahrhundert“ in Münster forschte nach frühen Selbstbildern Europas. Konturen gewann der Kontinent im Konflikt mit dem Osmanischen Reich einerseits, mit Afrika und den neu entdeckten Territorien Amerikas andererseits
von CHRISTIAN SEMLER
Europa hört am Atlantik auf. Aber wo fängt es an, genauer, wo hat es angefangen? Und wird mit „Europa“ nur eine geografische Einheit beschrieben, ein „kleines Vorgebirge Asiens“, wie Paul Valéry einst provozierend schrieb. Oder bezeichnet es einen Wertekanon, und wenn ja, welchen?
In dem Maße, in dem sich die Schwierigkeiten des europäischen Einigungsprozesses häufen, erschallt der Ruf nach europäischer Identität, zunehmend sogar das Bedürfnis nach einem europäischen Mythos. Historiker, Museumsleute, Kunstgeschichtler, eure Stunde als europäische Bewusstseinsbildner hat geschlagen!
Es gehört nicht zu den geringsten Verdiensten des Forschungskolloquiums „Europa, Mythos, Bilder und Konzepte im 17. Jahrhundert“, sich dieser Art von gut gemeinter Geschichtspolitik verweigert zu haben. Das Kolloquium, abgehalten am letzten Wochenende in Münster, war von der gleichen Arbeitsgruppe vorbereitet worden, die 1998 an gleiche Stelle und in Osnabrück die spektakuläre Ausstellung anlässlich der 350sten Wiederkehr des Westfälischen Friedens erarbeitet hatte. Damals hatten sich die Ausstellungsmacher in schroffer Weise vom überkommenen deutschnationalen Geschichtsbild abgegrenzt. Hatte die preußisch-deutsche Geschichtsschreibung den Friedensschluss von 1648 als die Katastrophe schlechthin angesehen, so wurde 1998 die in die Zukunft weisende, europäische Dimension des Westfälischen Friedens betont. Diesmal überwogen in Münster kritische Selbstreflexion, radikaler Zweifel, bis hin zu der bangen Frage, ob im 17. Jahrhundert überhaupt schon von einer klaren Vorstellung Europas die Rede sein könne, mithin das Kolloquium eigentlich über einen nicht vorhandenen Gegenstand debattiere.
Die Referate wie die Diskussionsbeiträge des Kolloquiums in Münster breiteten ein schier unübersehbares Material aus, blieben aber auf die Frage nach der Gestalt Europas im 17. Jahrhundert konzentriert. Die Fülle der vorgestellten Flugschriften, Pamphlete, Gemälde und Plastiken verdankte sich dabei dem interdisziplinären Ansatz – Historiker und Kunsthistoriker, Geografen, Völkerrechtler traten gleichberechtigt ans Podium. Und die Vertreter der Forschungsgruppe insistierten sanft auf der ursprünglichen Problemstellung, so dass der Stoßseufzer „Gut, das war die Anwort, aber was war die Frage“ für diesmal unterblieb. Will man ein Resumee dieses zweieinhalb Tage währenden Bombardements ziehen, so zeigt sich, dass die Rede von Europa im 17. Jahrhundert stark bestimmt war vom noch weiter wirkenden mittelalterlichen Universalismus, der christlichen Civitas. Sie wird propagandistisch verwendet, um die hegemonialen Ansprüche zuerst der Habsburger, dann des Sonnenkönigs Ludwig XIV. auf Europa zu untermauern.
Vor allem aber gewinnt die Figur Europa Kontur in der Auseinandersetzung mit dem europäischen „Hauptfeind“ Türkei einerseits, mit Afrika und den neu entdeckten Territorien Amerikas andererseits. Russland bleibt weitgehend außerhalb dieses Gesichtskreises. Zwar betritt es schon 1648 die Bühne des Westfälischen Friedensschlusses, aber Selbstisolation im Zeichen der Orthodoxie und Gegenausgrenzung seitens des Westens bestimmen bis zur Thronbesteigung Peters des Großen das Verhältnis zu „Europa“.
Amerika, oft dargestellt als nackte, der Menschenfresserei hingegebene Wilde, bildet in den Erdteilallegorien das Gegenbild zu Europa, dessen Vormachtstellung in den Künsten, den Wissenschaften, dem Militärwesen, vor allem aber in der allein selig machenden Religion kräftig unterstrichen wird. Obwohl es damals bereits eine umfangreiche Protestliteratur gegen die Barbarei der Kolonisatoren gibt, sind die Darstellungen der waffenklirrenden europäischen Minerva noch von keinerlei Selbstzweifeln angekränkelt. Afrika fristet in den Allegorien ein Kümmerdasein, während Asien – vor allem mit Blick auf China – immerhin die Attribute einer alten Hochkultur erhält.
Kompliziert zeigt sich das Verhältnis zur Türkei. In den Erdteilbildern des niederländischen Genremalers Jan van Kessel, die von jeweils 16 Städteansichten umrahmt sind, wird Konstantinopel als europäische Stadt aufgenommen, allerdings mit einer aggressiv-räuberischen Tierallegorie versehen. Bei der Friedensallegorie anlässlich des Pyrennäenfriedens zwischen Frankreich und Spanien 1669 wird der Kriegstempel geschlossen und Mars entfernt sich, allerdings nur, um den seitlich postierten türkischen Potentaten in ein neues Kriegsabenteuer zu ziehen. Die von päpstlichen Theoretikern im 17. Jahrhundert verbreitete Kreuzzugsideologie wider die Türken wurde – seltene Gelegenheit – von dem türkischen Historiker Mustafa Soykut aus den Quellen dargelegt. Erst im 18. Jahrhundert hat die Türkei als Hauptfeind Europas ausgedient.
Die „Europa Querula“, die wegen der Verwüstungen des Krieges klagende Europa, ist ein Topos der Friedenspropaganda, der mit der endlosen Fortdauer des Dreißigjährigen Krieges häufig dargestellt wurde. Andreas Bretschneiders Holzschnitt der auf einer Anhöhe postierten Europa, angefertigt zum Fürstentag in Leipzig 1631, ist nicht nur eine protestantische Propagandaarbeit, sondern drückt eine im Reich weit verbreitete Friedenssehnsucht aus. Gleiches gilt für Rubens Londoner Europagemälde „Die Folgen des Krieges“, dessen Frieden stiftende diplomatische Funktion die Kunsthistorikerin Elke Anna Werner, eine der Promoterinnen des Münsteraner Unternehmens, herausarbeitete.
Und wie verhält es sich mit dem Ursprungsmythos „Europa auf dem Stier“? Angelika Francke und Michael Haacke gewannen dieser alten Geschichte eine zeitgemäße Pointe ab: Es handelt sich um den Kulturtransfer, von dem Europa stets gelebt hat und ohne den es auch künftig nicht existierten kann. Eine anachronistische Deutung, aber eine schöne. Liebhaber des Themas – und das sollten wir als Europäer sein – seien auf den Themenband des Kolloquiums verwiesen, dessen Publikation hoffentlich nicht allzu lang auf sich warten lassen wird.
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