: „Otto Schily ist ein Liberaler“
Interview SEVERIN WEILAND
taz: Fast eineinhalb Jahre hat eine Arbeitsgruppe der SPD gebraucht, um Vorschläge zur Einwanderung und Integration zu machen. Andere waren schneller, wie die Union. Hat die SPD Angst vor dem Thema?
Sebastian Edathy: Überhaupt nicht. Wir wollten gründlich arbeiten, uns Zeit für Diskussionen nehmen. Auch unter uns gab es natürlich Klärungsbedarf.
Das Papier fällt, mit Verlaub, doch sehr zurückhaltend aus. Selbst Angaben zur Höhe der Einwanderung werden vermieden. Da wird die Süssmuth-Kommission immerhin konkreter, die von mindestens 50.000 Einwanderern pro Jahr in einer ersten Phase spricht.
Wir halten nichts von starren Quoten. Jenseits der Zuwanderung von EU-Bürgern und aus humanitären Gründen gilt: Arbeitsmigration muss sich an der ökonomischen Realität dieses Landes ausrichten.
Also wird es kaum Migration in nächster Zeit geben?
Von Jahr zu Jahr werden wir sehen müssen, wie groß der Bedarf sein wird. Bei Höchstqualifizierten liegt er schon jetzt auf der Hand. Bei anderen Gruppen nicht. Ich bin nicht derjenige der sich hinstellt und sagt: Wir holen tausende von Kellnern und Pflegekräften, obwohl eine entsprechende Nachfrage aus dem Potenzial der inländischen Arbeitskräfte gedeckt werden könnte.
Man hat den Eindruck, die SPD duckt sich vor ihrer Stammklientel.
Wir ducken uns nicht, wir wollen überzeugen. Dazu gehört, denen die Ängste zu nehmen, die einen Verdrängungswettbewerb fürchten.
Da fiele der SPD eine wichtige Aufklärerrolle zu.
Ja, durch unsere tradtionelle Bindung an die Arbeitnehmerschaft vielleicht mehr als die der anderen Parteien. Wir sind gefordert, Verständnis für die Notwendigkeit von Einwanderung zu wecken. Für die Akzeptanz von Arbeitsmigration ist das Vertrauen unabdingbar, dass die SPD keine Abstriche beim Ziel macht, die Arbeitslosigkeit zu senken.
Also setzt man auf Zeit.
Nein, aber Zeit werden wir auf jeden Fall brauchen. Was ist daran schlecht? Innerhalb der nächsten zehn Jahre wird sich die Einwanderung auf den Bereich der Hochqualifizierten mit einem neuen Recht konzentrieren. In dieser Spanne werden wir Erfahrungen sammeln können. Ab dem Jahr 2011 werden wir dann auch im Bereich der mittleren Qualifikation Arbeitsmigration brauchen. Die Zeit bis dahin müssen wir nutzen, um vor allem die Integration der hier lebenden Migranten zu verbessern. Wenn uns dies gelingt, wird es umso leichter fallen, Zustimmung für eine offensive Zuwanderungspolitik zu finden.
Aber wenn man ein Signal in diese Richtung aussendet, sollte es kräftig sein. Stattdessen pfeift die SPD sehr leise.
Die Einwanderung von mehreren hunderttausend pro Jahr, wie sie etwa die Wirtschaft verlangt, wird es mit uns in den nächsten Jahren nicht geben. Wir haben keine Veranlassung, die Wirtschaft aus ihrer Verpflichtung zu entlassen, sich um die Beschäftigung und Qualifizierung der einheimischen Bevölkerung zu kümmern. Das gilt mit Blick auf die hier lebenden Menschen, ob Deutsche oder Ausländer.
Erhalten Sie als Abgeordneter aus Ihrem Wahlkreis zum Thema Zuwanderung Briefe mit aggressivem Inhalt?
Das hält sich, glücklicherweise, in Grenzen. Deutlich entnehme ich aber den Gesprächen in meinem Wahlkreis in Niedersachsen, aber auch anderswo, dass wir mit dem Einwanderungsgesetz einen noch schwierigeren Weg beschreiten als mit der Rentenreform. Hier entwickeln wir nicht ein System weiter, hier schaffen wir etwas Neues. Insofern bin ich froh über die Sprechübungen der letzten Zeit.
Wieso Sprechübungen?
Ich meine das in einem ganz schlichten und positiven Sinne: auszusprechen, dass wir ein Zuwanderungsland sind. Nun haben wir die erfreuliche Situation, dass auch bis in weite Kreise der Union die Einwanderung anerkannt und beim Namen genannt wird.
Sie sind also optimistisch, dass sich die Union auf das Einwanderungsgesetz einlässt?
Noch ist nicht entschieden, ob sich die Position eines Peter Müller, der die CDU-Zuwanderungskommission geleitet hat, durchsetzt oder die derjenigen, die eine Einigung für taktisch unklug halten. Der Sommer wird zeigen, wie weit es gelingt, sich mit der Union auf Grundsätze zu einigen, die dann im Herbst in einen Gesetzestext münden. Dieser muss ja schließlich im Bundesrat Bestand haben. Schlimm wäre es, wenn die Union das Projekt aus wahltaktischen Gründen scheitern lassen würde.
Es bleibt aber der Eindruck, dass dabei Ihre Partei mehr Getriebener als Vorreiter ist.
Mag sein, dass auch wir über Jahre das Thema nicht so ernst genommen haben, wie es ihm gebührt. Aber dass wir uns haben treiben lassen, das weise ich zurück. Die Entscheidung des Kanzlers im Sommer vergangenen Jahres für die Green-Card hat Denkblockaden gebrochen. Und schließlich bewirkte die Einberufung der Einwanderungskommission durch Otto Schily, dass alle Parteien gezwungen waren, ihre Positionen auf den Tisch zu legen.
Auch die SPD?
Auch die SPD. Ich will doch gar nicht verhehlen, dass es auch bei uns Vorbehalte gab und noch gibt. Ich bin aber optimistisch. Die Erfahrung, dass die neu hinzukommenden Ausländer über kurz oder lang Arbeitsplätze schaffen werden, wird das Bild des Ausländers hierzulande radikal verändern. Das wird ausstrahlen, auch in die Parteien hinein.
Davon sind wir aber noch weit entfernt.
Richtig. Bislang herrscht die Gleichung vor: Ein Ausländer ist automatisch ein Niedrigqualifizierter, gehört der Unterschicht an.
Auch in den Köpfen Ihrer Kollegen im Bundestag?
Nicht direkt im Bundestag. Allerdings wurde ich anfangs, als ich dort noch Neuling war, häufig auf Englisch angesprochen, weil sich mancher nicht vorstellen konnte, dass ich sein Kollege bin. Aber im Umfeld des parlamentarischen Betriebes, etwa auf Veranstaltungen, gibt es diese sozialen Zuweisungen. So war ich hier in Berlin kürzlich mit Bekannten bei einem Sommerfest und habe dort einige Getränke auf einem Tablett zu unserem Platz gebracht. Prompt wurde ich, wegen meines Aussehens, von einigen der Anwesenden für den Kellner gehalten.
Was geht dann in Ihnen vor?
Ich habe die Erfahrungen gemacht, dass Ausgrenzung vornehmlich ein soziales Phänomen ist. Ich komme aus einem gutbürgerlichen Umfeld. Mein Vater, ein gebürtiger Inder, war Gemeindepfarrer. Als Kind des Pastors in einer kleinen Gemeinde wurde man natürlich anders behandelt als das Kind eines türkischen Malochers.
Sie sprechen von sozialer Ausgrenzung. Die SPD setzt in ihrem Konzept auf ein „Jahrzehnt der Integration“, will verstärkt auf die bereits hier lebenden Migranten zugehen. Das hätte man schon früher tun können.
Sicherlich. Nur, vor noch nicht allzu langer Zeit haben viele Einheimische Zuwanderung als vorübergehende Erscheinung, als Phänomen auf Zeit betrachtet. Jetzt, da sich vieles in den Köpfen ändert, haben wir die Chance, Versäumtes aufzuholen. Dazu gehört auch, die hier lebenden Migranten durch Sprachangebote stärker an die Gesellschaft heranzuführen.
Ist bei der Integration nicht schon viel Zeit verloren gegangen? In Berlin haben 70 Prozent der türkischen Jugendlichen keinen Abschluss, mangelt es vielen nach wie vor an ausreichenden Deutschkenntnissen.
Das sind alarmierende Zeichen, ganz klar. Manchmal wundert man sich, dass es bis heute so gut gelaufen ist, dass wir trotz der Probleme in den Städten doch ein relativ friedliches Nebeneinander der Kulturen vorfinden. Umso dringender müssen wir jetzt mit einer schlüssigen Politik der Einwanderung und der Integration beginnen.
Glauben Sie, dass mit Bundesinnenminister Otto Schily das Einwanderungsgesetz wirklich vorangetrieben wird?
Sie schätzen Otto Schily falsch ein. Im Grunde ist er ein Liberaler. Bei der Debatte um die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts zum Beispiel war er einer derjenigen, die sich für die Hinnahme der Mehrstaatlichkeit ausgesprochen haben.
Schily scheint aber die Rolle aller Innenminister zu spielen: im Zweifelsfall bremsen.
Schily ist einer der stärksten Minister im Kabinett mit einem der schwierigsten Aufgabenfelder. Wie wenige andere hat er bei den hochsensiblen Themen in der Innenpolitik die Abstimmungslage im Bundesrat sowie die Mach- und Vermittelbarkeit stets mit im Auge zu behalten – auch und insbesondere beim Einwanderungsgesetz. Immerhin hat die Union eine der höchsten Hürden für einen Kompromiss, nämlich die Forderung nach Einschränkung des Asylrechts, aus dem Wege geräumt.
Dagegen hat sich die SPD nicht durchringen können, das Asylrecht durch eine Besserstellung für Opfer nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung im Ausländergesetz zu verbessern – wie man hört, aus Rücksicht auf den Innenminister.
Die SPD-Fraktion weist in ihrem Papier sehr deutlich daraufhin, dass sie eine Verbesserung der Situation für diese Gruppen erreichen will.
Warum wird dann die Forderung lediglich im Anhang des SPD-Zuwanderungspapieres erwähnt?
Auch der Anhang gehört zum Papier.
Aber Sie machen keinen Druck, Verbesserungen für Opfer nichtstaatlicher Verfolgung durchzusetzen.
Wir werden sehen, wie weit der Bereich der nichtstaatlichen und geschlechtsspezifischen Verfolgung in Form einer gesetzlichen Änderung in den Gesprächen über ein Einwanderungsgesetz aufgegriffen wird. Die Gespräche aber an diesem Punkt scheitern zu lassen, hielte ich für unklug.
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