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Geschichte aus lieblosen Zeiten

25 Jahre Kinderhaus Heinrichstraße: Radikalenerlass und eine neue Welt  ■ Von Kaija Kutter

„Sicher, wir gehen nicht zu jeder Demo. Aber gesellschaftliche Themen sparen wir nicht aus“, sagt Gaby Heuwer. Die Heimleiterin des „Kinderhaus Heinrichstraße“ bereitet in diesen Tagen die Feier zum 25-jährigen Jubiläum vor, bei der es auch eine Talkshow mit Ehemaligen geben soll. Heute ist das Kinderhaus – über dessen Alltag noch bis Samstag im Bezirksamt Eimsbüttel eine Foto-Dokumentation von Marily Stroux gezeigt wird – eine gute Kita mit eigenem Profil wie andere auch. Vor 25 Jahren wäre sie beinahe am Radikalenerlass gescheitert.

„Ich wollte meinen Kindern eine Welt eröffnen. Kinder brauchen Kontakt zu Kindern“, erinnert sich der Vater Peter Schwartau. „Wir wussten, wie streng es in der Schule zugeht und wollten unseren Kindern einen Freiraum bieten.“ Überfüllte Klassen, überfüllte Kindergärten, überforderte LehrerInnen – man wollte bessere Bedingungen schaffen – eine Kita mit viel Platz zum Toben und kleine Gruppen von höchstens 14 Kindern, in denen sie „solidarisch miteinander umgehen“ und „nicht das Faustrecht siegt“, wie es in der Gründungserklärung hieß.

Er sei damals, im Sommer 1976, als Eltern in Eigeninitiative eine 500 Quadratmeter große Halle zu einem Kindergarten umbauten, so etwas „wie der Oberhandwerker gewesen“, sagt Schartau. Allein 36 Meter Bänke wurden getischlert, Küche und Sanitäranlagen errichtet, Trennwände gezogen, bunte Wandbilder gemalt. Statt für 900.000 Mark, wie damals für eine Kita in dieser Größenordnung üblich, wurde das Kinderhaus in Eigenarbeit für 128.000 Mark errichtet. Eltern opferten ihren Urlaub und steuerten private Erbschaften und Bausparverträge bei. Gut ein Drittel der Summe sollte die Stadt erstatten. Daraus wurde nichts. Zwar nahm die Heimaufsicht die Räume ab, befand sie sogar für gut. Am 2. August 1976 kamen die ersten 60 Kinder, darunter die Hälfte im Schulalter, ins Haus. Sechs Wochen später folgte die Hiobsbotschaft: Die Jugendbehörde weigerte sich, die Pflegesätze zu bezahlen, weil es keinen Bedarf gegeben habe.

„Uns überraschte das. Zunächst schien es, dass die Behörde uns wohlwollend gegenüberstand“, erinnert der Erzieher Norbert Carstensen. Die Schulkinder und ihre BetreuerInnen machten daraufhin einen Ausflug zur Hamburger Straße und verlangten, den damals zuständigen Schulsenator Günter Apel zu sprechen. Dieser war nicht zum Gespräch bereit, schrieb aber postwendend an die Heinrichstraße einen empörten Brief, in dem er den ErzieherInnen „Indoktrination“ der beteiligten Kinder vorwarf. Sein Amt, so verteidigte sich der SPD-Politiker, habe zudem den Verein rechtzeitig gewarnt, „sie wussten, dass die Behörde ihren finanziellen Wünschen nicht entsprechen kann“. Stimmt so nicht, konterte der Kita-Verein in einem Antwortbrief. Schließlich hätten sich zwei der drei zuständigen „Oberfürsorgerinnen“, wie Jugendamtsleiter damals hießen, „positiv“ zur Bedarfsfrage im Einzugsgebiet der Heinrichstraße geäußert. Auch hätten die Sachbearbeiter mit dem Verein bereits über Baukostenzuschuss und Essenssatz verhandelt.

Der Verein wandte sich an die Presse, die zunächst wohlwollend berichtete: „Eltern bauten ein Kinderhaus – die Behörde zahlt keinen Pfennig“ titelte die Mopo, und zitierte den Verdacht, dass „politische Gründe bei der Geld-Verweigerung im Spiel sind“. Eben dieser Satz, so rechtfertigte sich zwei Jahre später Hamburgs Bürgermeister Hans-Ulrich Klose vor der Bürgerschaft, habe ihn angeregt, beim Verfassungschutz einmal nachzufragen. Dort habe er erfahren, dass dieses Projekt eine „im wesentlichen“ von einer K-Gruppe „getragene Einrichtung“ sei. Klose, der in dieser Angelegenheit später auch vor einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss über die Einflussnahme des Senats auf die Presse aussagte, ging noch weiter. Er ermächtigte seinen Pressesprecher Paul O. Vogel, „auf Fragen von Journalisten oder in Hintergrundgesprächen, die zu führen seine Aufgabe ist, darauf hinzuweisen, dass diese Geschichte auch einen politischen Hintergrund habe“. Die Springer-Zeitungen berichteten wenig später, über das „rote Kinderhaus“ , dass eine „Kaderschmiede für die ganz Kleinen“ sei.

Das Verhalten des Senats war doppelbödig. Denn parallel antwortete die Stadt auf eine Kleine Anfrage des FDP-Abgeordneten Gerhard Weber, es gebe außer fehlendem Bedarf keine anderen Gründe, dem Kinderhaus die Finanzhilfe zu verweigern. „Halten Sie Schweigen einerseits und Plaudern andererseits für ein politisches Kampfmittel?“, fragte der Kinderhaus-Beirat, dem auch Prominente wie Henning Venske, Luc Jochimsen und Malte Dahrendorf angehörten, in einem Brief an den SPD-Bürgermeister. Auch verlangte man zu wissen, ob ErzieherInnen, Eltern oder Kinder „belauscht oder abgehört wurden“. Doch die Gespräche im Hintergrund hatten gewirkt, erinnert Peter Schwartau: „Zwei Jahre lang haben die Medien gemauert, hatten wir keine Chance, uns über die Zeitungen zu wehren.“

Unterdessen vollbrachten alle Beteiligten ein Kunststück: Sie hielten den Kita-Betrieb mit den 77 Kindern drei Jahre lang aufrecht, ohne einen Pfennig vom Staat zu bekommen. Insgesamt 1,2 Millionen Mark, so rechnet Vereinsmitglied Hans-Herrmann Teichler vor, wurden durch Gehaltsverzicht, Elternbeiträge und Spenden aufgebracht. Einen großen Anteil brachten drei Benefiz-Konzerte im Audimax, bei denen Hamburger KünstlerInnen umsonst spielten und spätere Stars wie Konstantin Wecker und Nina Hagen ihre ersten Auftritte in Hamburg hatten. Rund ums Kinderhaus entwickelte sich ein reges Kulturleben. „Wir haben damals unheimlich viel diskutiert und ausprobiert“, erinnert Norbert Carstensen, „und geguckt, was die Kinder brauchen.“ Es gab Kuschelecken und Toberäume, Kindervollversammlungen und „heiße Debatten“ über Rechte von Kindern. Sollte man das Taschengeld abschaffen und den Kids statt dessen gleich ihre monatlichen Kosten als Etat zur Verfügung stellen? Was heißt eigentlich kindliche Sexualität, wo sind die Grenzen? Was sind Hexen, wie lebten Indianer und warum sind Museen mit Ausstellungen darüber so gemacht, dass Kinder nichts anfassen dürfen? Kinder, Eltern und ErzieherInnen, so scheint es, waren stets auf der Suche nach Antworten, befanden sich in einem gemeinsamen Selbstbildungsprozess, wie ihn sich heute große Kita-Träger für ihre Bildungsarbeit wünschen. „Es wurde auch viel übertrieben“, erinnert Carstensen. Statt Weihnachten gab es Anti-Weihnachten, mit AKW-Plaketten am Baum und ErzieherInnen-Ballett. Durchgehend lobten ehemalige Kinder, mit denen er gesprochen habe, den Freiraum, den sie genossen, sagt Peter Schwartau.

Erziehung zu Selbstständigkeit, Stärkung der Kinder in ihren Fähigkeiten und in ihrem Forschungsdrang. Was im Kinderhaus seit 25 Jahren propagiert wird, ist heute auch in städtischen Kitas zumindest Anspruch. „Wir haben damals darauf gepocht, dass der emanzipatorische Ansatz eine eigene Grundrichtung ist“, erinnert Carstensen. Laut Jugendwohlfahrtgesetz musste für diese Grundrichtung eine eigene Einrichtung geschaffen werden. Die Sache beschäftigte bald die Justiz. Im Juni 1978 fällte das Verwaltungsgericht ein zweischneidiges Urteil zu Gunsten der Heinrichstraße. Zwar war es dem Verein gelungen, eine drastische Unterversorgung nachzuweisen – nur für 16 Prozent der 3 bis 6 Jährigen gab es im Umkreis einen Kita-Platz. Der Klage auf Zuschuss gab das Gericht trotzdem nicht statt, schließlich hätte doch noch geprüft werden müssen, ob der Träger eine „den Zielen des Grundgesetzes förderliche Arbeit“ leiste – damals die gängige Begründung für Berufsverbote. Angesichts der Vorgeschichte fürchteten die Kinderhäusler, das „Damoklesschwert des ersten Radikalenerlass gegen einen Kindergarten“.

Apel-Nachfolger Jost Grolle ließ den Verein abermals beim Verfassungsschutz überprüfen. Doch der hatte mittlerweile keine „verwertbaren Erkenntnisse“ mehr. Auch ein Gutachten des Deutschen Jugendinstituts in München hatte am Kinderhaus nichts zu bemängeln. Am 27. September 1979, drei Jahre nach Eröffnung, sagte die Behörde die Finanzhilfe mündlich zu. „Man hatte damals Angst vor einem Grundsatzurteil, auf das sich andere Träger berufen können“, vermutet Carstensen. Es habe, so bilanziert Hans-Hermann Teichler, erst Anfang der 80er den Schwenk des Staates gegeben, alternative Sozialarbeit zu unterstützen: „Das waren bis dahin recht lieblose Zeiten.“ Es folgte ein langer Rechtsstreit über die Höhe und Zahlungsmodalitäten. Auch heute noch kämpfen die ErzieherInnen der Heinrichstraße wie viele andere freie Träger auch um Gruppengröße und Personalschlüssel, fehlen Krankheitsvertretung und Vorbereitungszeit.

Die Geschichte des Kinderhauses war auch von inneren und pädagogischen Konflikten gekennzeichnet, beispielsweise zur Frage: wieviel Freiräume brauchen Kinder, was brauchen sie an Struktur und wie lässt sich beides miteinander verbinden? 1991 trennte sich ein Teil der Mitglieder und gründete „Sternipark“.

Das Kinderhaus selbst geriet seit 1993 unter Leiterin Gaby Heuwer in eine ruhigere Phase. Die Personen haben gewechselt, das Konzept der emanzipatorischen Erziehung wurde beibehalten und weiterentwickelt. So sind heute die Gruppen im Alter gemischt. Zum Zwecke der Suchtprävention wurden spielzeugfreie Projekte eingeführt. Ein besonderes Augenmerk wird auf einen kritischen Umgang mit Rollenklischees in der Jungs- und Mädchenpädagogik gelegt.

Was das Kinderhaus aber dringend braucht, sind neue Räume: Der Mietvertrag ist befristet und es fehlt ein Außengelände. Unter der Bedingung, dass sich das Kinderhaus von 77 auf 58 Plätze verkleinert, ist das Amt für Jugend bereit, am nahegelegenen Stenvort einen Neubau zu finanzieren. Das wäre die passende Geste zum 25-jährigen Jubiläum.

Die 25-Jahr-Feier mit Musik, Talkshow, Theater, Film und umfangreichen Kinderprogramm findet am kommenden Sonnabend von 14.30 Uhr bis 22 Uhr auf dem Parkplatz an der Heinrichstraße 14 a statt

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