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Der Kuhstall als Vorreiter

Moderne als Einklang von Funktion und Natur: Eine Retrospektive zu den Entwürfen und Arbeiten des Avantgarde-Architekten Hugo Häring in der Akademie der Künste

Wohl selten dürfte ein Viehstall für die Architekturgeschichte eine Protagonistenrolle gespielt haben. Doch für den zu Gut Garkau bei Lübeck gehörigen Kuhstall trifft dies zu. Die gesamte Anlage steht im Zentrum der Retrospektivausstellung von Hugo Häring in der Akademie der Künste. Das Hauptwerk des Avantgardearchitekten, entstanden von 1922 bis 1926, wird auf der Grundrissform des (heute leer stehenden) Kuhstalls durch zahlreiche Fotos und ein Modell vermittelt. Sogar die originale, wie Minimal Art erscheinende Bullenbox ist ausgestellt. Gut Garkau zeichnet sich durch moderne Konstruktionstechniken, ortsangepasste Materialwahl und funktional-organische Gestaltung aus, alles Merkmale, die für Häring typisch waren.

Geboren wurde der neben Gropius, Mendelsohn, Mies van der Rohe und Bruno Taut führende Vertreter des Neuen Bauens 1882 in Biberach an der Riß als Sohn eines Schreiners. Er studierte in München, Dresden und Stuttgart bei Cornelius Gurlitt, Fritz Schumacher, Paul Wallot und Theodor Fischer. Nach Berufsjahren in Hamburg und Ostpreußen kam Häring 1921 nach Berlin. Hier traf er auf Mies van der Rohe und den Städteplaner Martin Mächler, wurde Sekretär der modernen Architektenvereinigung „Der Ring“ und Kontrahent von Le Corbusier. Nach 1933 geriet Häring in die Isolation. Er übernahm die Leitung der Reimannschule in Berlin, die in „Kunst und Werk“ umbenannt wurde. Auch in der Nachkriegszeit konnte er als Architekt nicht mehr Fuß fassen, obgleich er an Hans Scharouns Institut für Bauwesen beteiligt war. 1958 starb Häring zurückgezogen in Göppingen.

Die ihrem einstigen Mitglied gewidmete Ausstellung zeigt rund 200 Entwürfe und Pläne aus dem Nachlass im Archiv der Akademie der Künste, zahlreiche Fotos sowie sechs Modelle eigener Bauten, aber auch Bildwerke und Bücher unterschiedlicher Zeitgenossen, die Härings Vorstellung vom „organhaften“ Bauen und bewegten Raum beeinflussten: Auguste Rodins „Ehernes Zeitalter“ und Adolf von Hildebrands „Dionysos-Relief“, Rudolf Bellings „Dreiklang“ und Naum Gabos „Konstruktion im Raum“. Zu seinen nicht verwirklichten Entwürfen zählen das höchst dynamisch konturierte Empfangsgebäude des Leipziger Hauptbahnhofs von 1907, der schiffsbugähnliche Wettbewerbsbeitrag zum Hochhaus Bahnhof Friedrichstraße von 1921/22, die eher rasterförmigen Vorschläge zur Umbildung der Berliner City in eine Hochhausstadt oder die Neugestaltung des Platzes der Republik.

Zu den realisierten Werken der Zwanzigerjahre zählen sein ausnahmsweise klassizistisch geprägtes Seuchenkrankenhaus Gaffrée-Guinle in Rio de Janeiro sowie in Berlin die Reihenhauszeile der Siedlung Onkel-Toms-Hütte und ein Wohnungsblock der Ring-Siedlung in Siemensstadt. Im letzten Ausstellungsraum, der Spätwerk und theoretischen Schriften gewidmet ist, wird der Baumeister aber auch als Entwerfer von Möbeln und als früher Maler vor allem von Porträts vorgestellt. Während Härings Ideen religiös und antiwestlich geprägt waren (sein unabgeschlossenes Hauptwerk: „Die Ausbildung des Geistes zur Arbeit an der Gestalt“), stellen seine Bauten einen gangbaren und bedeutenden Sonderweg der modernen Architektur dar.

MICHAEL NUNGESSER

Bis 5. 8., Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, Tiergarten; der Katalog (65 DM) erscheint Mitte Juli

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